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Festival Cannes: Der Tod im Film

Je mehr Cannes sich von der freundlichen Seite zeigt - wettermäßig -, desto düsterer wird der Wettbewerb des 63. Filmfestivals. Es wird viel gestorben im Jammertal Erde, in einer kranken, mörderischen Welt.

Der Tod ist eine Eule im Schnee, die sterbend ein Knäuel Haare ausspuckt. Der Tod ist Blut im Urin, er ist ein russischer Wegelagerer, der dich all deiner Habe beraubt und deiner Seele dazu. Der Tod kommt ins Kloster im Atlasgebirge, die Mönche singen und beten gegen ihn an. Der Tod ist eine Mädchenleiche im Fluss. Der Tod ist ein japanisches Killerspiel.

Je mehr Cannes sich von der freundlichen Seite zeigt, je gleißender das Sonnenlicht über den in der Mittelmeerbucht schaukelnden Yachten, je blankgeputzter der Himmel (und die allmorgendlich frisch gewässerte Strandpromenade), je frischer die Winde, je energischer das Gerangel mit den uniformierten Zerberussen an den Kino-Eingängen, je mehr Touristenrummel auf der Croisette, desto düsterer wird der Wettbewerb des 63. Filmfestivals. Werden die Wettbewerbsfilme des 63. Festivals an der Côte d’Azur. Es wird viel gestorben im Jammertal Erde, in einer kranken, mörderischen Welt.

Einen ganzen Film lang stirbt Javier Bardem in „Biutiful“ von Alejandro González Inárritu. Der 46-jährige Mexikaner, der 2006 mit seinem über drei Kontinente globetrottenden Episodenfilm „Babel“ in Cannes Furore machte, beschränkt sich diesmal auf die eigene Muttersprache und einen einzigen Schauplatz, Barcelona. Aber auch hier wandelt einer zwischen den Welten, zwischen Leben und Tod, zwischen Vatersorge, Geldnot und Freundschaftsdiensten, zwischen dem Tagwerk und den Nachtseiten des Migrantenviertels Santa Coloma. Der Mann heißt Uxbal, ein Schwarzmarkthändler, der den illegalen Chinesen Baustellenjobs verschafft und den senegalesischen Straßenhändlern billige Ware, einer, der als Medium auf Trauerfeiern ein Zubrot verdient, weil er die Toten versteht. Er hat zwei kleine Kinder, eine manisch-depressive, haltlose Ex-Frau. Und er erfährt, dass er bald an Krebs sterben wird.

Mein Leben ohne mich. Ein zärtliches Flüstern zwischen Vater und Tochter, ein Ring wechselt den Finger, die Eule im Schnee, eine suggestiv-delirierende Kamera, wild und poetisch – endlich Kinobilder in Cannes, endlich ein jüngerer Filmemacher, der den Veteranen die Stirn bieten kann. So jedenfalls denkt man zu Beginn. Vor allem ist „Biutiful“ Bardems Film, von der ersten bis zur letzten Szene. Sein Leidensweg, sein Märtyrerantlitz, die Agonie eines Rastlosen, die Verzweiflung, die Schuld (Uxbal besorgt billige Heizlüfter für das Kellerlager von zwei Dutzend Chinesen, an denen diese des Nachts ersticken) – dem spanischen Star gebührt dafür die Darstellerpalme. Aber warum ästhetisiert Inárritu das Elend erneut, warum bürdet er diesem Schmerzensmann alles Unglück und alle Verantwortung auf für die Hilflosen um ihn herum? Auf Uxbal, diesen überforderten Helfer, verlassen sich alle, nur er kann auf niemanden bauen, am wenigsten auf die verlotterte Mutter seiner Kinder. Inárritu beutet das Elend der Anderen als Staffage für das so existenzielle wie eindringliche Dilemma seines Helden aus: eine spekulative, moralisch bedenkliche Dramaturgie. Auch eine Kandidatin für die Darstellerinnen-Palme gibt es seit Mittwoch: Yun Junghee im koreanischen Melodram „Poetry“. Eine fragile, ein wenig naive ältere Frau, sie versorgt ihren Enkel, an dessen Schule ein Mädchen Selbstmord beging, erfährt, dass sie Alzheimer hat und besucht einen Lyrik-Workshop.

Poesie ist sehen lernen, sagt der Lehrer, und Regisseur Lee Changdong setzt diesen allmählich begreifenden Blick in Szene. Eine subjektive Kamera, wie bei Inárritu, aber keine, die gängelt und drängelt. Ein Bewusstsein erwacht, für die Bedürfnisse der anderen, für die Schönheit und für das Verbrechen, in das der Enkel verwickelt ist; eine Zuschauerin wird zur Akteurin. „Poetry“ ist der feinsinnigste, bislang bewegendste Wettbewerbsfilm in Cannes 2010.

Mike Leighs „Another Year“, „Biutiful“, „Poetry“: drei Filme, über die zu debattieren sich lohnt. Das ist weder bei Takeshi Kitanos Yakuza-Ballerfilm „Out rage“ der Fall, der so lange stumpfe, oberbrutale Gewaltszenen aneinanderreiht, bis man sich fragt, ob der Japaner je seine eigenen, die Gewalt ungleich intelligenter hinterfragenden Filme gesehen hat. Noch gibt das Endzeitdrama „Meine Freude“ von Sergei Loznitsa Anlass für lohnenden Streit, jene deutsch-ukrainisch-niederländische Koproduktion über einen russischen LKW-Fahrer, der von Polizisten, Dieben und anderen Fieslingen bestohlen, gequält und geschunden wird.

Und auch über „Des hommes et des dieux“ wurde in Cannes nicht lange diskutiert. Xavier Beauvois rekapituliert darin die letzten Wochen französischer Trappistenmönche im algerischen Bergkloster, bevor sie von Mudschaheddin verschleppt und ermordet wurden (eine wahre Geschichte von 1996). Ein unaufgeregtes Porträt einiger weniger Helden wider Willen, aber eben nur: solides, bescheidenes, mönchisches Kino.

Dennoch geht einem die Hommage auf das Bekenntnis zur inneren Freiheit nicht aus dem Kopf. Wegen Jafar Panahi. Seit Anfang März sitzt der international vielfach (auch in Cannes) preisgekrönte iranische Regisseur im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran, wegen eines angeblich regimefeindlichen Films. Das Festival hat Panahi in die Jury eingeladen, bei jeder Vorstellung bleibt ein Platz für ihn frei. Ein leerer Kinositz, ein Zeichen der Solidarität.

Panahis berühmter Landsmann, der Cannes-Stammgast Abbas Kiarostami, eröffnet die Pressekonferenz zu seinem Wettbewerbsfilm mit einer Protestnote für den inhaftierten Kollegen. Kiarostami hat sich in einem Offenen Brief für Panahi verwendet, die Aktion war jedoch so vergeblich wie alle Proteste von Festivals, von europäischen Außen- und Kulturministern, von Amnesty International. Panahi ist am Sonntag in Hungerstreik getreten, er konnte der Zeitschrift „La Règle du Jeu“ eine Nachricht zukommen lassen, in der er mitteilt, dass er seit 77 Tagen keinen Anwalt gesehen hat und dass er gemeinsam mit anderen misshandelt wird.

Kiarostami sagt: „Ich bin fassungslos, wie man einen Film als Verbrechen ansehen kann, der noch nicht einmal existiert.“ Er fordert Panahis sofortige Entlassung und bittet die Journalisten, nicht nach seinem Film „Copie Conforme“ zu fragen – einer verspielten Beziehungsgeschichte in der Toskana mit Juliette Binoche –, sondern nach Panahi. Als Juliette Binoche vom Hungerstreik hört, bricht sie in Tränen aus. Panahis Brief relativiert alle Bilder vom Tod und von der Gewalt, die Menschen einander antun. Selbst in Cannes ist das Kino nicht alles.

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