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Kultur: Die Sklavin

Sie sagten ihr, sie sei ein Tier, und folterten sie. Die Nordkoreanerin Sun-Ok Li war sechs Jahre im KZ

Nachts lagen 80 Frauen in einer Zelle, und jede von ihnen glaubte daran, dass ihr Aufenthalt im Lager ein Irrtum war. Sie lagen da, dachten an die Schande, die über sie gefallen war, und zupften an dem Flaum auf ihren Köpfen herum und an den Männerunterhemden, die sie bei ihrer Ankunft vor Jahren erhalten hatten. Einmal hörte Frau Li die Nachbarin flüstern, dass sie in Wirklichkeit unschuldig war und alles nur der Rachsucht eines kleinen Beamten aus Pjòktong zu verdanken habe. Die Frau erzählte später sogar den Aufsehern davon, dass die Regierung in ihrem Fall einen Fehler gemacht habe, und die Aufseher traten und schlugen sie dafür, und als sie nach ein paar Wochen wie durch ein Wunder nicht gestorben war, glaubte sie wie alle anderen einfach weiter daran, dass die Partei ihr Verfahren neu eröffnen würde. Denn das hatten sie ihr ja versprochen, das hatten sie allen versprochen, nachdem sie ihnen einen Trichter in die Speiseröhre gesteckt und Wasser hineingepumpt hatten. Sie hatten gepumpt, es versprochen und den Stift hingehalten, und irgendwann hatte man dann unterschrieben, dass man schuldig war, dass man den Führer und seinen Sohn und das Volk betrogen hatte. So wie alle anderen in diesem Lager auch.

Frau Li war im Oktober 1987 nach Nummer 14 gekommen, das im Gebirge über der Stadt Kaechon im Süden von Nordkorea liegt. Nummer 14 gehört zu einem System von Konzentrationslagern, von deren Innenleben man seit einigen Jahren durch die Erzählungen von sechs Männern und einer Frau weiß und für die die Sicherheitsbehörden des Landes den Namen Kjohwa-soh benutzten, als sie Frau Li am Bahnhof von Kaechon in einen Militärtransporter luden: Erziehungslager für die Gedankenveränderung. Frau Li erschrak über dieses Wort, denn nach dem wenigen, was man in Nordkorea darüber flüsterte, wusste sie, dass Kjohwa-soh kein Ort für eine Frau wie sie war. Eine vorbildliche Funktionärin und Kriegsheldentochter, die nun einem von wahrscheinlich zehn Komplexen entgegenfuhr, in denen sich heute jeden Tag Dinge ereignen, die man sich lieber in einer anderen Zeit vorstellen möchte.

Da war zunächst ein Geruch. Das letzte Dorf lag 50 Kilometer zurück, es hatte angefangen zu schneien, und ein Talkessel öffnete sich. Der Geruch wurde stärker, man sah Fabrikanlagen und niedrige Baracken bis zum Horizont, auch Lastwagen, die auf einer zehn Meter hohen Betonmauer den Komplex umfuhren. Der Transporter hielt, der Geruch wurde penetrant, und Frau Li dachte, dass sie diesen Geruch kannte. Sie dachte, dass es so manchmal in ihrer Küche gerochen hatte, und als sich das Tor öffnete und sie die Hundertschaften, die das Gelände dahinter bevölkerten, sah und roch mit ihren Wunden und Verwachsungen, da fielen ihr wieder die Fischabfälle ein, die zu Hause manchmal noch einige Zeit im Mülleimer gelegen hatten.

Die Gefangenen von Nummer 14 wurden nach ihrer Ankunft über ihren Status aufgeklärt. Die meisten hatten, als sie noch in der Außenwelt lebten, die man das „Paradies des Volkes“ nannte, gedacht, dass ein Krimineller „menschlicher Unrat“ war. Das steht in einem Werk, das 1000 Bände umfasst und das Kim Il Sung erdachte. Kim Il Sung, vor dem sich die Vögel verneigen. Der den Regenbogen ergriff. Der Genosse Großer Führer, Generalissimus. Der Allvater, der elf Jahre nach seinem Tod noch immer Staatsoberhaupt des Landes ist und der Korea einst aus der Klammer der Weltmächte befreite, der Korea vom unterdrückten Objekt zum Subjekt der Geschichte machte: indem er Juche-sasang schuf, den Kimilsungismus, die Lehre von der Eigenständigkeit des Neuen Koreanischen Menschen.

Eine Lehre, auf die sich auch die Offiziere beriefen, die in Nummer 14 die Einweisung abwickelten. Sie erklärten, dass man als Krimineller in einem Kjohwa-soh noch weniger als menschlicher Unrat war. Das habe mit der Evolution zu tun. Das begriffen die meisten nicht. Es gibt, sagte einer der Leutnants am Empfang, wo man die Kleider auszog, von nun an nur noch einen Unterschied zwischen euch und Ratten und Hunden. Er deutete auf das Gesäß einer Frau. Es habe bei diesen Gefangenen eine Rückverwandlung stattgefunden, die nicht ganz vollständig verlaufen war. An ihren Gesäßen fehlte das vielen Tieren typische Schwanzende der Wirbelsäule. Gefangene in Nummer 14 gehörten daher zum Stamm der Kkori-Eopneun-Jimseung, dem Stamm der „schwanzlosen Tiere“.

In Nummer 14 kamen viele an, die Mitglied der Partei waren. Wie gut ein Mensch ist, bemisst sich in Nordkorea daran, wie sehr sein Leben der Partei gewidmet ist. Mit der Einweisung in Nummer 14 hatte man seine Mitgliedschaft in dieser Partei verloren. Man hatte auch sein Wahlrecht und alle anderen Bürgerrechte verloren. Die Lagerordnung von Nummer 14 sah unter anderem folgende Regeln vor: Gefangene durften nicht sprechen. Anliegen hatten sie mit Handzeichen zu kommunizieren, so etwa das Bedürfnis, mit ihrer Gruppe auf die Toilette zu gehen. Wenn ein Wärter einen Gefangenen rief, musste dieser zu ihm rennen und sich mit gesenktem Kopf vor seine Füße knien. Für langsames Antworten wurde man mit Schlägen bestraft. Für das Heben des Kopfes mit schweren Misshandlungen. Es war den Häftlingen verboten, zu weinen oder ihr Spiegelbild in einem Fensterglas oder einer Pfütze anzusehen. Wem es unterlief, den Kreidekreis zu übertreten, den die Aufseher um jeden Arbeitsplatz gezogen hatten, der wurde ohne Warnung erschossen. Wem wiederholt Fehler bei der Arbeit unterliefen, der wurde öffentlich exekutiert. Frau Li nahm sich vor, diese Regeln aufs Genaueste zu befolgen. Sie hatte in der Volksrepublik einen Sohn. Sie wollte, sagt sie heute, nicht „seinen Namen beschädigen“, mit einer Mutter, die in einem Kjohwa-soh gestorben war.

Frau Li war 23 gewesen, als sie in die Partei eintrat. Frau Li war erfolgreich. Und sie war dankbar dafür.

„Ich bedankte mich so viel aus meinem Herzen. Ich war loyal, weil die Partei zu mir wie eine Mutter war. Ich war auch fanatisch.“

Sie sitzt auf einem Stuhl im Büro des Gemeindezentrums einer christlichen Kirche in Rochester Hills, einem Vorort von Detroit, Michigan, USA.

„Fanatisch. Was bedeutete das?“

„Ich habe alles hingegeben, meine Familie, meine Liebe, alle meine persönlichen Sachen. Ich konnte nicht zu den Elternabenden in der Schule meines Sohnes gehen. Mein Mann wollte mit mir in den Urlaub fahren, ich konnte nicht. Ich wollte meiner Partei und Führer Kim Il Sung dienen. Sogar im Lager, als ich schon gefoltert worden war. Doch menschliches Leben war nicht möglich ohne Führer Kim Il Sungs Wesen. Die Welt und die Menschheit konnten nicht existieren ohne ihn.“

Dabei hatte man sie in seinem Namen unschuldig inhaftiert. Im Frühling 1985 hatte der Sohn des Großen Führers, den Frau Li nur den „Geliebten Führer Genosse Kim Jong Il“ nannte, begonnen, bei seinen Auftritten mit einer seltsamen Jacke mit Stehkragen herumzulaufen. Im Land entwickelte sich eine Art Mode. Zu Frau Lis Unglück, die Leiterin des Versorgungsamtes der Provinz Onsung war, denn diese Jacke bestand aus einem Tuch, das in China gekauft werden musste. Frau Li war nicht wohl dabei, als sie dem Sicherheitschef ihrer Provinz immer wieder sagte, dass sie ihm aus den Beständen, die für die Schneidereien bestimmt waren, Stoff für eine, aber nicht für zwei Jacken geben könne. Vielleicht brachte sie ihm damals nicht genügend Respekt entgegen? Zehn Monate später wurde Sun-Ok Li an einem Sonntag verhaftet. Wegen Veruntreuung von Volkseigentum und der Annahme von Bestechungsgeld. Sie hatte damit, wie der Richter sagte, „Kim Il Sungs Vertrauen enttäuscht“. Er verurteilte sie in 15 Minuten zu 13 Jahren Haft in einer „Besserungseinrichtung“.

Politische Bildung war das offizielle Ziel der Haft in Nummer 14. In Wirklichkeit bestand sie aus Sklavenarbeit. Die Häftlinge standen um fünf Uhr auf und gingen um null Uhr dreißig schlafen. Sie produzierten Schuhe, Hemden, Bürsten. Papierrosen waren für den Export nach Frankreich, Tischdecken für Polen und Pullover für Japan bestimmt. Wer seine Quoten nicht erfüllte, wurde mit Schlägen bestraft und mit einer Herabsetzung der täglichen Getreideration von 100 auf 80 Gramm. Es gab Gefangene, die Lehm aßen und daran starben, und es gab welche, die Ratten und Mäuse aßen, die die einzige Proteinquelle im Lager waren. Frau Li war auf Grund ihrer Erfahrung irgendwann mit Arbeiten in der Lagerbuchhaltung betraut worden: Jedes Jahr starben zwischen zehn und 20 Prozent der Insassen, die meisten an Entkräftung und Krankheit. Andere, nachdem sie gefoltert worden waren.

Vor einer Methode, die man die „Kammer des Todes“ nannte, hatten alle am meisten Angst. Als Frau Li das erste Mal eine dieser Kammern sah, dachte sie an einen Käfig, in dem Hühner gehalten wurden. Es war ein mit einer Stahltür versperrtes, unfassbar schmutziges und 60 Zentimeter breites Loch in einer Betonwand. Man musste in die Wand hineinkriechen, nachdem man die Kleidung ausgezogen hatte. Das Loch war einen Meter zehn hoch. Man hatte also keinen Platz, um aufzustehen, die Beine auszustrecken oder sich hinzulegen. Man hockte. Unter einem der Abfluss, in den man seine Notdurft geben konnte. Sonst geschah nichts. Im Sommer sah man die Maden, die aus dem Abfluss krochen, und in der Nacht den Schein des Ganglichts. Die meisten hielten so sechs bis acht Tage durch. Wenn sie aus der Kammer entlassen wurden, fielen sie um.

Dann waren ihre Gesäße entzündet, ihre Beine und Schultern krumm. Die meisten blieben auf Dauer verkrüppelt. Auch Frau Li hatte eines Tages in diese Zelle gemusst, weil sie versucht hatte, eine Arbeiterin zu schützen, die ein fehlerhaftes Hemdteil genäht hatte. Sie erholte sich nach ihrer Entlassung wieder, weil sie sich als Buchhalterin täglich waschen durfte und weil ihre Arbeit leicht war. Das Mädchen, das sie geschützt hatte, wurde im Vorhof der Stahlfabrik hingerichtet.

Wie immer traten dazu die 6000 Häftlinge an. Die Gefangene wurde vor ihnen mit verbundenen Augen an einen Pfosten gefesselt. Der Vizedirektor hielt eine Rede, in der er erklärte, warum der Tod der Gefangenen unvermeidlich war. Er zitierte die Lehren Kim Il Sungs, nach denen dieser „das fehlerlose Gehirn“ war, das erst „den Körper“, also die Massen, „mit Leben ausstatten“ würde – im Austausch für ihre Loyalität zu ihm. Kim Il Sung hatte diese Anschauung im Laufe der 80er Jahre in Korea entwickelt. Nach dieser Führerdoktrin, der „Theorie des Unsterblichen Soziopolitischen Körpers“, war ein Mensch ohne Loyalität zur Führung totes Fleisch. Die Hinrichtung von Young Sun Suh wurde von sechs Soldaten mit Schnellfeuergewehren ausgeführt, die Mitglieder ihrer früheren Arbeitsgruppe mussten ihren Tod aus der ersten Reihe mit ansehen.

Frau Li hatte es inzwischen verstanden, wertvolle Arbeit im Offiziersbüro zu leisten. Sie konnte sich im Lager relativ frei bewegen. Eines Tages stand sie in einem Raum der „Nervenanstalt“, den die Wärter als „Erholungsraum“ bezeichneten. Auf dem Boden lagen sechs schwangere Frauen, bei denen Ärzte mit einer Injektion die Geburt eingeleitet hatten. Sie trugen die Nachkommen von Klassenfeinden in sich. Klassenfeinde sind bis in die dritte Generation verdorben, hatte Kim Il Sung geschrieben. Kinder der Frauen, die schwanger ins Lager gekommen oder nach einer Vergewaltigung durch einen Wärter schwanger geworden waren, wurden nach der Geburt erwürgt. Bestattet wurden die Leichen der Gefangenen, indem die Wärter sie in Schluchten des Gebirges warfen. „Sie waren Teufel“, sagt Frau Li, „diese Wärter hatten keine menschlichen Gedanken und Gefühle mehr.“

„Dachte niemand an einen Aufstand? Oder an Flucht?“

„Wir hatten gelernt, dass menschliches Leben und Schicksal nicht ohne Führer Kim Il Sung existieren. Mein Leben und Schicksal konnten nicht entwickelt sein ohne ihn.“

„Sie hatten keinen Mut ohne seinen Segen?“

„Die Welt und die Menschheit konnten nicht existieren ohne ihn.“

„Denken Sie, dass Nordkorea ein kommunistisches Land ist?“

„Das ist lächerlich. Nordkorea ist eine Sekte, eine Pseudoreligion.“

Frau Li ist 1992 nach sechs Jahren Haft aus Nummer 14 entlassen worden. „Sun-Ok Li hat gewissenhaft für Kim Il Sung gearbeitet, deshalb haben wir beschlossen, ihre Leistung zu belohnen“, verkündete ein Offizier. Zum ersten Mal seit Errichtung des Lagers habe man eine Gefangene wegen vorbildlicher Führung entlassen. Im Winter 1994 ist Sun-Ok Li mit ihrem Sohn über den Fluss Tjumen nach Nordostchina geflohen.

Seitdem sie aus ihrem Land entkommen ist, hat Frau Li Leuten auf der ganzen Welt von Nummer 14 erzählt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch bestätigen, dass ihre Aussagen in vielen Details mit denen der früheren Häftlinge Chul-Hwan Kang, Hyuk Ahn, Young-Kuk Li, Choon-Hwa Jung, Tae-Jin Kim und mit der des ehemaligen Wärters Myung Chul-Ahn übereinstimmen, die aus ähnlichen Lagern nach Südkorea entkommen sind. Frau Li hat vor dem Senat und dem Repräsentantenhaus der USA ausgesagt. Sie redet in Kirchen und wurde vom englischen Parlament vernommen. Sie glaubt, dass der Westen auf ihrer Seite ist.

Die UN-Menschenrechtskommission hat der nordkoreanischen Regierung im April 2003 zum ersten Mal scharfe Vorwürfe wegen systematischer Verletzung von Menschenrechten gemacht. Kim Jong Il wurde offen für die große Zahl von Gefangenenlagern, für weit verbreitete Zwangsarbeit, Folter und öffentliche Hinrichtungen kritisiert. Seitdem wird diese Kritik regelmäßig wiederholt, zuletzt in einem Report vom 10. Januar 2005.

In den Lagern des Landes sind Hilfsorganisationen zufolge heute 200000 Menschen inhaftiert. Doch westliche Diplomaten und Regierungen meiden das Thema. Im Vergleich zum Atomprogramm Nordkoreas scheinen die Lager bedeutungslos zu sein. Gerade hat Frau Li ein paar jungen Leuten in Los Angeles ihre Erlebnisse geschildert. Sie haben ihr aufmerksam zugehört und sie beim Abschied, nach zwei Stunden, gefragt, wann sie wieder nach Hause fährt. „Sie meinten Nordkorea“, sagt Frau Li. „Sie haben mir einen guten Flug gewünscht.“

Rico Czerwinski

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