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Kultur: Die Tyrannei der Werte

Eberhard Straub stört sich an der Renaissance des W-Wortes – und sieht sich darin einig mit Carl Schmitt

Werte sind etwas Großartiges. Jeder kennt sich aus damit. Der Bundespräsident ist von Amts wegen Fachmann. Christian Wulff hat das W-Wort seiner Internetseite zufolge in 21 Reden und Interviews gebraucht. Er sprach von der Europäischen Union als einem einzigartigen „Werte- und Wohlstandsprojekt“. Als ihn die Zeitung „Hürriyet“ vor einer Reise in die Türkei fragte, was er von den türkischstämmigen Menschen in Deutschland erwarte, sagte Wulff: „Wichtig ist neben der Sprache aber auch, dass alle Menschen, die in unserem Land leben, die Werte unserer Verfassung anerkennen und Respekt vor unserer Gesellschaftsordnung haben und akzeptieren, wie wir leben.“ Das Grundgesetz nennt, ohne von Werten zu sprechen, unter anderen die unantastbare „Würde des Menschen“, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit des Glaubens, Ehe und Familie, Eigentum und Erbrecht. Die CDU befindet sich ihrer Einschätzung nach auf „einem festen Wertefundament“ – so heißt es in einer Erklärung ihrer Wertekommission. Gemeint ist das christliche Menschenbild, zu dem die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und das Erfordernis der Solidarität gehören.

Für den Regierenden Bürgermeister von Berlin ist auch die Aufklärung ein Wert. In einem Streitgespräch über den Ethikunterricht an Berliner Schulen und dessen Fundament sagte der Moderator: „Aber unsere Ethik, unsere Werte beruhen doch auf dem Christentum.“ „Nein“, antwortete Klaus Wowereit, „die beruhen beispielsweise auch auf der Aufklärung! Und da fängt es doch schon an, das ist nicht nur richtig, sonst wären wir nicht in einer Demokratie, sondern nach wie vor in einer monarchistischen Gesellschaft.“

Das ist vorbei – nicht aber das inflationäre Werte-Gerede. Der Autor Eberhard Straub fühlt sich davon offenbar tyrannisiert, man kann es verstehen. Der Historiker und Autor untersucht in seinem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Zur Tyrannei der Werte“, warum der Begriff im Politsprech der Gegenwart derart Karriere machen konnte. Eine seiner Thesen: „Nach den Rechtsbrüchen während der nationalsozialistischen Epoche wollte man nicht nur den bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat neu begründen, sondern ihn möglichst mit sittlichen Mächten verbinden.“ Das hatte Folgen. Die Deutschen, so Straub, erhoben ihr Grundgesetz zur neuen „Bundeslade und würdigten als Hohe Priester dieses neuen Bundes von Staat und Sittlichkeit die Verfassungsrichter in Karlruhe. Damit entfernten sie sich von den liberalen Traditionen und sprachen dem Staat Interventionsmöglichkeiten in dem ihm entzogenen Reichen der Sittlichkeit zu.“

Ein solcher ferner Blick auf die deutsche Politik macht ein paar abgeklärte Überlegungen möglich. Weil bei uns Richter entscheiden, was Recht und Gerechtigkeit ist, ist Hartz IV zum Fall für Karlsruhe geworden. Noch zugespitzter: Was Gerechtigkeit ist, wird in Deutschland nicht mehr in der politischen Arena verhandelt – wohin die Frage gehört. Es wird eben auch vor Gericht verhandelt. Die Politik nimmt für sich wertegeleitetes Handeln in Anspruch, doch sollen dann Richter entscheiden, ob der Anspruch erfüllt wird.

Straubs eher leise und unpolemisch daherkommenden Überlegungen sind eine Fundamentalkritik des politischen Systems. Um so schöner, wenn er mal böse wird: Eigentlich gehe es den Staat nichts an, wie sich der Bürger im Pluralismus zurechtfinde – und eigentlich sollten auch gesellschaftliche Kräfte „so vernünftig sein, den Staat nicht als Instrument zu gebrauchen, um ihr Bild vom nicht rauchenden, nur Safer Sex treibenden, an seinen Cholesterinspiegel denkenden, Übergewicht vermeidenden und sich täglich trimmenden Verfassungspatrioten als Menschenbild des Grundgesetzes für jeden verbindlich zu machen“.

Wir berufen uns, direkt oder indirekt, ständig auf Werte, um politische Meinungen oder Überzeugungen mit moralischer Überlegenheit zu verkleiden. Vor ein paar Tagen behauptete Claudia Roth, die Höchste aller Grünen, diese seien heute die eigentlichen Vertreter bürgerlicher Werte. Karl-Theodor zu Guttenberg erklärt auf seiner Internetseite: „Politik braucht klare Werte, muss mutig und zukunftsorientiert handeln.“ Für Eberhard Straub gehört zu dem Wertegerede, wie es heute üblich ist, auch der „Zwang zur Political Correctness“. Die nämlich schränkt die Freiheit ein. Im Grunde ist es ganz einfach – wir haben es nur über all unseren verrechtlichten Verteilungsstreitereien vergessen: Was ist dem Staat der hilflose Einzelne wert? Wie viel darf die Bildung eines Kindes kosten? Welche Rentensteigerung ist gerecht? Das sind politische – und nur politische – Fragen. Wo ist die Freiheit geblieben, darüber in der politischen Arena – und nur dort – zu streiten? Der Mensch „hat keinen Preis und Wert, er besitzt seine Würde, die seine Freiheit und Selbstbestimmung begründet“, schreibt Straub: „Die Umdeutung der Freiheitsrechte in Werte kann diese gefährden, weil Wertsetzer im Namen ihrer bevorzugten Werte danach verlangen, diese zu realisieren.“

Den Beweis für die Richtigkeit dieser These hat Carl Schmitt erbracht, und zwar in seiner eigenen Person. Vielleicht hat ihn seine frühe Neigung, das Recht und den Staat zu ideologisieren, zu seinen späteren Überlegungen über „Die Tyrannei der Werte“ animiert. Der Rechts- denker, der sich innig auf den Staat der Nazis eingelassen hatte, ist in seiner Studie von 1960 zu ähnlichen Schlüssen gelangt wie später Eberhard Straub. Schmitts Schrift enthält ein paar wunderbar klare Gedanken zur Konkurrenz von Werten und Rechten – vor allem deshalb lohnt sie sich zu lesen. „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. Wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“

Das ist politisches Denken, das sich nicht einfangen lässt von schönem Wert- gerede. Interessanterweise traut sich Schmitt, der große Irrende unter den Staatsrechtlern, in dieser Schrift nicht, für den locker verfassten, rein formalen Staat zu plädieren. In seinem Nachwort zu Schmitts Aufsatz erklärt Christoph Schönberger, woran das liegen könnte. Der frühere Ideologe Schmitt, der so gern im NS-Staat Karriere gemacht hätte, riet in der Bonner Republik zur „Ideologieabstinenz“, schreibt Schönberger. Denn Schmitt wusste aus eigener Erfahrung, dass die Autonomie des Rechts stets gefährdet ist durch die jeweiligen Großideologien. Das gilt bis heute, auch wenn die herrschende Großideologie sich mit schönen Werten ansehnlich verkleidet hat.

Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 172 Seiten, 17,95 Euro.

Carl Schmitt: Die Tyrannei der Werte. Duncker und Humblot, Berlin 2011. Dritte, korrigierte Auflage. 91 Seiten, 18 Euro.

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