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Jurjews KLASSIKER: Geist und Feuer

Ein junges, zum Heulen früh aus dem Leben gerissenes Genie gehört zu den Gottheiten eines jeden romantischen Literaturpantheons. Bei den Engländern ist das der zephyrische John Keats (er starb im Alter von 26 Jahren), in Russland der zornige Michail Lermontow (Tod mit 27), die Deutschen können mit Georg Büchner auftrumpfen, der gar 24-jährig verschied, mit dem unvollendeten „Woyzeck“ auf seinem Schreibtisch.

Ein junges, zum Heulen früh aus dem Leben gerissenes Genie gehört zu den Gottheiten eines jeden romantischen Literaturpantheons. Bei den Engländern ist das der zephyrische John Keats (er starb im Alter von 26 Jahren), in Russland der zornige Michail Lermontow (Tod mit 27), die Deutschen können mit Georg Büchner auftrumpfen, der gar 24-jährig verschied, mit dem unvollendeten „Woyzeck“ auf seinem Schreibtisch. Die Tschechen haben ihren Karel Hynek Mácha, der in Litomerice (dem nordböhmischen Leitmeritz) eine ganze Nacht bei der Löschung eines Brandes verbrachte, daraufhin erkrankte und am 6. November 1836, kurz vor seinem 26. Geburtstag, starb. Mácha war jung und – in diesem Punkt sind sich die meisten seiner Landsleute einig – ein Genie. Hier aber enden die Ähnlichkeiten mit den anderen „Dichterjünglingen“.

Das Leben Máchas sieht gar nicht „romantisch“ aus. Keine tragischen Liebschaften, keine Duelle, keine Revolutionen, nichts. 1810 als Sohn eines Müllers in Prag geboren, studierte er Recht an der Karls-Universität, wanderte gern, wie es damals der Brauch aller Studenten war, spielte noch lieber in einem tschechischsprachigen Amateurtheater und wäre heute noch Student, Wanderer und Amateurschauspieler, wenn seine „Lori“ Eleonora Somková, die Tochter eines Buchhändlers, nicht schwanger geworden wäre. Der anständige junge Mann musste schleunigst seinen Abschluss machen, um die künftige Familie versorgen zu können. Eine zufällige Praktikantenstelle, ein zufälliger Brand, ein zufälliger, nichts aussagender Tod ... Nicht das Leben Máchas, an dem wenig Symbolträchtiges ist, allein sein Werk ist wichtig.

Wichtig geworden. Eine Handvoll Gedichte und Erzählungen, über damalige Zeitschriften verstreut und teilweise auf eigene Kosten publiziert (die berühmte Verserzählung „Mai“ beispielsweise) hat bei den Zeitgenossen wenig Anklang gefunden. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts begann die immer zahlreicher und selbstbewusster werdende tschechischsprachige Kulturschicht Böhmens und Mährens Mácha als den Gestalter der modernen tschechischen Schriftsprache zu verstehen. 1910, als er 100 Jahre wurde, ist die richtige Máchamania ausgebrochen, die in den nächsten 26 Jahren, bis zu seinem hundertsten Todestag im Jahr 1936, anhielt.

Wie immer in solchen Fällen, beanspruchten ihn alle im tschechischen Kulturbetrieb konkurrierenden Kräfte: von Naturalisten und Nationalisten bis zu den radikalsten Avantgardisten. Es hat sich herausgestellt, dass das ungewöhnlich gebaute und teilweise beinahe surrealistisch anmutende Tschechisch Máchas bestens für die Moderne geeignet ist und die tschechische Literatur zu dem befähigt, was sie tatsächlich geworden ist: zu einer der größten Literaturen Europas, der Literatur Hašeks, Nezvals und Bohumil Hrabals.

Die zweiten 26 Jahre Karel Hynek Máchas wurden ungleich triumphaler als die ersten. Das Ganze mündete in der feierlichen Verlegung seiner sterblichen Überreste von Leitmeritz nach Prag. „Doppelt posthum“ – 1939, in der bereits von den Nazis besetzten Tschechoslowakei. Dann kam eine Atempause: das ruhige Dasein eines in Bibliotheksregalen verstaubten Nationalklassikers, bis 1993 die Stellen in Máchas Tagebüchern erstmals veröffentlicht wurden, die früher „aus Respektsgründen“ unkenntlich gemacht waren. Diese Tagebücher, die Roman Jakobson schwärmerisch mit Joyce verglich, sind auszugsweise in einem Band der Tschechischen Bibliothek bei der DVA nachzulesen. (Karel Hynek Mácha: „Die Liebe ging mit mir ...“) Er enthält selbstverständlich auch Literaturtexte Máchas. Erstaunlicherweise riefen seine intimen Aufzeichnungen (wann, wie viele Male, von hinten oder von vorne trieb er es mit „Lori“) ein Skandälchen hervor, als ob die Tschechen gedacht hätten, dass ihr Nationaldichter geschlechtslos war.

Nun, im Jahr seines 200. Geburtstags, beginnt für Karel Hynek Mácha der neue Abschnitt „von Jubiläum zu Jubiläum“. Ob er es in seinen „dritten 26 Jahren“ schafft, als das anerkannt zu werden, was er zweifellos ist: eine der interessantesten Erscheinungen der gesamten europäischen Literatur?

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