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Viele Sprachen im Gepäck. Ilma Rakusa bricht von ihrem Wohnort Zürich immer wieder an die Ränder Europas auf.

©  Jürgen Bauer

Ilma Rakusa im Porträt: Das polyglotte Unterwegskind

Sie hat mit ihren Gedichten und Erzählungen eine Weltkarte der Poesie angelegt. Dafür erhält die Dichterin den Berliner Literaturpreis. Eine Würdigung.

Wir dürfen uns die zwischen vielen Sprachen changierende Weltpoetin Ilma Rakusa als einen „Engel der Luft“ vorstellen. Das Unterwegssein zwischen ihren vielen Heimaten, die ständigen Aufbruchsbewegungen von ihrem Wohnort Zürich an die Ränder Mittel- und Osteuropas sind ihr zum Lebenselixier geworden. Zwischen Berlin, Prag, Odessa, Kairo, Teheran und Peking greift sie in ihrem neuesten Gedichtband „Impressum: Langsames Licht“ nach dem „Rad der Zeit“, um Geist und Gestalt dieser Metropolen zum Leuchten zu bringen. Ilma Rakusa, die am heutigen Montag im Roten Rathaus mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet wird, der mit einer Gastprofessur an der Freien Universität zu Berlin verbunden ist, topografiert in schönen Miniaturen und mit impressionistischer Eleganz europäische Geschichte und nimmt dabei auch die aktuellen Migrationsbewegungen in den Blick.

In ihrer eigenen nomadischen Kindheit hat sie erfahren, was Landlos-Werden bedeutet. Als Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters im Jahr 1946 in der slowakischen Kleinstadt Rimovská Sobota geboren, wurde der regelmäßige Ortswechsel zum Lebensprinzip, Heimat von Beginn an eine „Mehrfachverankerung“. Von Rimavská Sobota ging es nach Budapest, von dort weiter nach Ljubljana und Triest, bis sie als Fünfjährige mit ihrer Familie nach Zürich kam und dort erst mal als Staatenlose mit dem Misstrauen der Behörden zu kämpfen hatte.

Sie entwirft in ihren Büchern Sehnsuchtsbewegungen

Da hatte sie schon drei Sprachen im Gepäck: Ungarisch, Slowenisch und Italienisch. Deutsch wurde zu ihrer vierten Sprache. Die Bucht von Triest, das kleine Dorf Barcola nördlich von Triest und die Landschaft rund um die Strandfelsen von Miramar bildeten die Fixpunkte ihrer Kindheit und wurden auch seit den frühen Erzählungsbänden „Miramar“ (1986) und „Steppe“ (1990) zu Leitmotiven ihrer Poesie. „Ich schaue und halte fest“, heißt es in „Meer Mehr“ (2009), „ich lege Erinnerungsfährten, konstruiere Gedächtnisinventare. Namen, Namen, Orte, Daten. Die Aufzählung klingt wie ein Märchen. Oder wie ein Gebet?“

Die poetische Grenzgängerin und Übersetzerin aus dem Serbokroatischen, Russischen und Französischen entwirft in ihren Büchern Sehnsuchtsbewegungen. Die Reibungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden sind dabei Lebensschule wie künstlerischer Stimulus. Dabei vertraut sie oft auf eine Technik der Aufzählung, Anrufung, Inventarisierung. Orts- und Personennamen sowie sinnliche Details der erkundeten Städte und Landschaften fungieren als Ordnungssystem. Wenn ihr alles haltlos scheint, das Leben wie die brüchige Ordnung der Verse, sucht die Dichterin Zuflucht in den ältesten Formen der Poesie: in der Invokation, im Abzählreim oder der Litanei. Die religiösen Beschwörungsformeln, die inständigen Anrufungen, die ergreifenden Kirchenlieder und murmelnd repetierten Gebete prägten bereits ihre katholische Kindheit. Aufgewachsen mit sakralen Ritualen, verbrachte sie viele Stunden in Gottesdiensten oder Andachten, in denen der Rosenkranz gebetet wurde, eine der eindringlichsten liturgischen Exerzitien der Wiederholung.

Hypnotisches Wiederholen von Formen und Auflisten von Namen

In ihrer Münchner Rede zur Poesie beschrieb Rakusa im März 2016 diese Passion für eine aus suggestiver Wiederholung geformte Dichtung, die in gesteigerter Intensität Schöpfungsgeschichten durchbuchstabiert. Diese poetische Vorliebe für das hypnotische Wiederholen von Formeln und das Auflisten von Namen zeigt sich bereits in ihrem expressiven Liebespoem „Love after Love“ (2001). Die tiefe seelische Zermürbung durch Liebesleid und Liebesverrat artikuliert sich in diesen „acht Abgesängen“: „Es war einmal ein Mund, der sagte du/es war einmal eine Hand, die brachte Ruh/es war einmal ein Ohr, das hörte zu...“

Das Kapitel „Lament“ setzt ein mit der für Rakusa typischen Anrufungsgeste, die sich an der Erfahrung einer südenglischen Landschaft entzündet: „Am Faden deiner Orte entroll ich dich/entlass ich dich/dem Ungehabten/hinein ins Hügelland/an den Kieselstrand“. Es folgen, vom lyrischen Ich im Zwiegespräch mit sich selbst evoziert, zwei Dutzend Ortsnamen. Vorangetrieben in einem stakkatohaften Rhythmus, überlagern sich hier deutsche, italienische und englische Sprachelemente, eine Polyphonie, die Rakusa auch in „Impressum: Langsames Licht“ zelebriert.

Ihre Werke funktionieren auch als Geschichtsspeicher

Das Buch beginnt mit „Melancholien“, in denen eine skeptische Reisende die Himmelsrichtungen überprüft, in die sie noch gehen könnte. Wenn sie dann im zweiten Kapitel „Orte“ durch die alten mittel- und osteuropäischen Sehnsuchtsorte streift, durch galizische „Schwarzerde“, ein menschenleeres Transsylvanien oder das Odessa Isaak Babels, kann sie nur noch Verluste bilanzieren: „Es gibt sie nicht mehr,/die Chaims, Jankels, Mendels/die Solomontschiks mit flammendem Haar,/die wüsten Gauner von der Moldawanka,/die Makler, Taubenschläge, Narren/den Pesthügel und die zahnlosen Alten,/die Zaddiks mit karminrot gemaltem Bart,/Krähenschwärme, auf Särgen Altäre,/zu Asche verbrannt.“

Rakusa, das polyglotte „Unterwegskind“, hat eine Weltkarte der Poesie angelegt: mit Gedichten und Erzählungen, die auch als Geschichtsspeicher funktionieren – mit der Aussicht auf weitere Expeditionen ins Offene.

Ilma Rakusa: Listen, Litaneien, Loops – zwischen poetischer Anrufung und Inventur. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2016. 37 Seiten, 12 €.

Ilma Rakusa: Impressum: Langsames Licht. Droschl Verlag, Graz 2016. 184 Seiten, 20 €.

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