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Internatsroman: In den Krallen des Teufels

Göttliche Komödie am Niederrhein: In „Wir in Kahlenbeck“.blickt Christoph Peters auf seine katholische Schulerziehung zurück

Der Internatsroman ist seit Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Hermann Hesses „Unterm Rad“ ein beliebtes Genre, um gleichsam unter Laborperspektive den Prozess des Erwachsenwerdens zu verfolgen. Anlässlich von Paul Ingendaays autobiografisch gefärbtem Internatsroman „Warum du mich verlassen hast“ (2006) fragte Hans Christian Kosler in der „NZZ“ allerdings: „Sind nicht alle Internatsromane nur noch Variationen eines überschaubaren Bereichs von Verhaltensmustern?“ Und müsste man diese Frage angesichts von Christoph Peters’ „Wir in Kahlenbeck“ noch viel drängender stellen?

Denn der 1966 in Kalkar geborene Autor, sechs Jahre jünger als Ingendaay, ist bereits der zweite, der über das Collegium Augustinianum Gaesdonck, das katholische Jungeninternat am Niederrhein, wo auch er Anfang der 80er Jahre zur Schule gegangen ist, geschrieben hat. Bei Ingendaay heißt es Collegium aureum, bei Peters nun Collegium Gregorianum Kahlenbeck.

„Wir in Kahlenberg“ ist Christoph Peters’ fünfter Roman, religiös aufgeladen, mit manchmal geradezu satirisch beißendem Humor, der aber eine tiefe Nachdenklichkeit verbirgt. Peters hat gut daran getan, nicht auf die neuesten Pädophilieskandale anzuspielen. Auf rund 500 Seiten entfaltet er innerhalb und außerhalb des durch Zäune und Stacheldraht geschützten Klosters um seinen Helden Carl Pacher ein Leben, das nach draußen drängt und nach innen sucht.

Peters interessiert weniger das Skandalon der Bevormundung, Unterdrückung, Verachtung und Lieblosigkeit der Institution und ihrer Mitarbeiter. Damit kommen die pubertierenden Jugendlichen irgendwie klar, sie schaffen sich ihre Nischen und Fluchten. Zur Debatte steht vielmehr, ob und wie man überhaupt in einer solchen Umgebung gläubig sein kann, welche Verbiegungen sie produziert, und welches Ausmaß an Selbstkasteiung und Bestrafung sie mit sich bringt.

In drei Etappen führt der Weg durch diese göttliche Komödie. Im Hintergrund die Musik jener Jahre. Frank Zappa, Genesis, gelegentlich Bach oder Liszts Mephisto-Walzer. Der ist für den zunehmend religiösen Eiferer Carl einerseits faszinierend, andererseits Teufelswerk.

Schon der Prolog ist Ausdruck des Humors, der diesem Roman innewohnt: ein Adventsgottesdienst im heimischen Henneward. Die Jungen sitzen rechts, die Mädchen links, die Frauenblöcke dahinter, während die Männer im Vorraum warten, rauchen und über den Schweine-Preis palavern. Der hohe Predigtton des Pastors Hünermann – „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe“ – wird nicht nur in Folge einer Kriegsverletzung durch seinen Sprachfehler konterkariert. Vor allem das Geschwätz der Kinder und Jugendlichen stört. Niemand schreitet ein. Nur Carl besinnt sich des Herrn.

Solche Verrohungen wachsen sich ihm vor dem Hintergrund der Kriege auf der Welt, der Atombomben, des Hungers und der in Russland und China bedrohten Gläubigen, zum schlechthin Bösen aus. Er fleht Gott an, dass er ihm die Kraft verleihen möge, zu intervenieren. Aber Gott meldet sich nicht, und Carl macht den Mund nicht auf aus Angst vor Hohn und Schlägen. Während er noch mit sich hadert, drängeln sich seine Widersacher schon auf dem Weg nach vorn, „um den Leib des Herrn zu empfangen“.

Fortan erleben wir Carl Pacher im Kampf mit sich, seinen Kameraden, den Lehrern, Erziehern, dem Auge Gottes und, ja, mit gesteigerten Fantasien auch im Hinblick auf Mädchen. Spiritual Krohkes und Präses Roghmann kennen sich da aus: „Die Lust vergeht, der Ekel bleibt.“ Ein nächtliches Gespräch zwischen Carl und seinem Kumpel Bart trägt beiden eine Vorladung zum Präses ein. Bart wird abgemahnt und weggeschickt. Auf Carl geht der Präses persönlich ein, immerhin stammt der „aus einer guten Familie“, liebt Gott und Jesus Christus.

Scheinheilig bedrängt er ihn, er möge die Wahrheit sagen, zumal das, was er zu sagen habe, ja gar nicht schlimm sei: „Ich muss das fragen: habt ihr euch gegenseitig an den Geschlechtsteilen berührt?“ Carls verstörtes „Nein“ beendet das Verhör nicht: „Hattet ihr einen Samenerguss?“ Der Präses zieht ein Fazit: „Schlimm wird es erst, wenn man es mit Mädchen tut. Das ist eine der gefährlichsten Fallen des Teufels.“

Von den Küchenmädchen (Anstellungsvoraussetzung: dumm und hässlich) gefällt Carl eine, Ursula oder Usch genannt, am besten, der Kontakt zu ihr aber ist verboten. Und zu Hause hat es ihm Regina angetan, die Tochter des Dorforganisten, der er schon lange einen Brief schreiben will. „Der Brief ist verdammt schwierig. Weißt Du“, erklärt er Bart, „er muss so formuliert sein, dass sie mich danach wirklich versteht. Wie soll sie sonst sicher sein, dass sie mich lieben kann. Wir kennen uns ja gar nicht. Beziehungsweise im Prinzip kennen wir uns zwar seit ewigen Zeiten, nur gesprochen haben wir nie miteinander.“

Der Brief wird distanziert abschlägig beschieden. Die Strafe Gottes. Aber noch bleibt die Hoffnung auf Ulla, wie nur er sie nennen darf. Das ist großartig herausgearbeitet, wie sich auch hier Carl in die göttliche Liebe versteigt, sich seine Fantasien zu Fantasmen auswachsen bis zum völligen Wirklichkeitsverlust in religiöser Verzückung. Auch das, so wird er belehrt, ist eine Versuchung des Teufels. Deshalb ist ihm auch mit Ulla kein Glück beschieden, sie ist zu alt und er noch minderjährig. Aber Carl hat ja seine Freunde, Holzkamp und Kuffel. Der weiß, dass auch diese Niederlage aus Gottesperspektive ein Sieg ist. Hatte Ulla nicht auch andere Liebschaften?

Als am 13. Mai 1981 Schüsse auf Papst Johannes Paul II. fallen, nimmt für Carl „die große Drangsal ihren Anfang“. Carl hat mit Kumpel Großkreuz auf den Untergang der Welt gewettet. In Tränen, Selbsterniedrigung und pubertären Endzeitszenarien geht ihm, dem Versucher Gottes, als Strafe die Welt unter. Aber das Leben geht überraschend weiter, auch der Papst überlebt. Und die Fallen des Teufels ziehen Carl nach wie vor magisch an, in kleinen antiaufklärerischen Exkursen raffiniert ausgelegt von Holzkamp und Kuffel. Verstrickt in immer mehr Schuld, wird er anschließend umso verbissener in den Schoß der Kirche zurückkehren.

Gegen Ende macht sich Carl bei Vollmond heimlich auf den Weg zu einer Satansmesse im Wald, ein Rat Holzkamps, um dort einer „nackten Buhlerin“ zu begegnen. Dafür ist er bereit, seine Seele zu verkaufen. Der Gipfel seiner Verblendung! Doch keine Messe wartet auf ihn, keine Buhlerin. Während Holzkamp sich ins Fäustchen lacht, sucht Carl verzweifelt nach Erlösung von dieser Sünde, ohne bei der Beichte auf vernichtende Details eingehen zu müssen. Ein faszinierender Roman über eine Gottsuche im Verführungsfeuerwerk zwischen Himmel und Hölle, von hoher sprachlicher Dichte und gedanklicher Präzision.

Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck.

Roman. Luchterhand, München 2012.

506 Seiten, 23 €.

Wend Kässens

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