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Jazz-Triumvirat. Vijay Iyer mit seinem Bassisten Stephen Crump (li.) und Drummer Marcus Gilmore.

© ACT

Jazz-Pianist im Interview: Vijay Iyer: Der Sound der Revolution

Vijay Iyer gilt derzeit als weltbester Jazz-Pianist. Kommende Woche spielt der Amerikaner in der Passionskriche in Kreuzberg. Ein Gespräch über Hip-Hop, Blues und Visionen.

Mister Iyer, auf ihrem preisgekrönten Album „Accelerando“ sind rhythmische Transformationen zu hören, Beats, die sich scheinbar verdoppeln und melodisch-harmonische Kippfiguren, die sich bei der Funk-Band Heatwave oder Michael Jackson bedienen. Wie würden Sie den aktuellen Jazz charakterisieren?

Wenn die Geschwindigkeit zunimmt, wird jeder Schlag kürzer. In diesem Format ist das, was wir tun, tatsächlich neu: Wir erhöhen die Geschwindigkeit der Beats und die Geschwindigkeitswechsel synchron. Unser Groove ist experimentell, intuitiv und präzise zugleich, während wir die Geschwindigkeit quadrieren, ersetzen wir Details. „Human Nature“ von Michael Jackson war ein prägendes Stück meiner Jugend, deshalb ist es in unserem Repertoire – und nicht, weil ich an die Popfähigkeit des Jazz glaube. Jazz hat keine Chance als reines Wirtschaftsprodukt. Kammermusik, Sinfonieorchester und das Ballett hätten ohne öffentliche Förderung nicht überlebt. Die Leute, die über die Mobilität zwischen Jazz und Pop reden, äußern lediglich Wunschvorstellungen. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Man braucht nicht nur Geldquellen, man braucht auch Arbeit für die vielen Jazzstudenten, die Jahr für Jahr an einer der zahlreichen Hochschulen ihr Diplom machen.

Sie verbinden Avantgarde, Groove, Pop und Tradition. Was bedeutet Jazz noch für Sie?
Für mich zählen Revolution, Erfindungsreichtum, Aufrichtigkeit, Vision und Qualität, das verbinde ich mit Jazz. John Coltrane ließ sich von indischer Musik, Astronomie und Kunst inspirieren, ich verarbeite Einflüsse früher elektronischer Musik aus Berlin, Hip-Hop und südasiatischer Musik. In den letzten zwanzig Jahren scheint mir der Anspruch verloren gegangen zu sein, durch schöpferische Neugier und das unaufhörliche Studium unterschiedlicher Kulturen etwas Neues zu erfinden. Es gibt ein Foto, das John Coltrane im Guggenheim-Museum zeigt, das mich immer sehr inspiriert hat. Wenn das Wort Jazz je etwas bedeutet hat, dann als Code für Geschichte, Erbe, Community, Körperbewusstsein und Strategie der transformativen Kräfte.

Sie würden Jazz also als künstlerische Haltung bezeichnen?
Eine Lebenshaltung, die ihre Kraft aus der Community schöpft, die Geschichte dieser Musik ist von Individuen geprägt, die Risiken auf sich nahmen. Diese Community der Improvisatoren bezeichne ich als mein Zuhause – Leute, die unter behüteten Bedingungen Jazz spielen, interessieren mich nicht. Ich fühle mich von verschiedenen Komponenten des Jazz angezogen – dem Widerstandsbezug, der Improvisation in Echtzeit, der Gemeinschaft der Improvisatoren, kollektiver Aktion und Musik, der Geschichte der Ideen und Experimente, die diese Musik hervorgebracht hat.

Ihre Erfahrungen mit afroamerikanischen Musikern sind vielschichtig und zentral. Zu Ihrem Trio gehört der junge schwarze Schlagzeuger Marcus Gilmore, ein Enkel des legendären Schlagzeugers Roy Haynes.
Den deutlichsten Bezug, den meine Generation und jüngere Musiker zur schwarzen Kultur haben, ist Hip-Hop. Das ist das Terrain, wo die schwarze Kultur lebt. Der kulturelle Bezug zum schwarzen Amerika wird dabei in Mikrosekunden, in kleinsten Nuancen spürbar. Natürlich gibt es auch Bezüge zum Blues und Free Jazz, doch ob man afroamerikanisch spielt oder nicht, wird heute allein im Bezug zum Hip-Hop ausgedrückt. Wir haben es mit einer Generation zu tun, die die Segregation nicht mehr selbst erlebt hat, wohl aber die wachsende Ungleichheit. Das ganze Gerede von „post racial“, nur weil wir einen schwarzen Präsidenten haben, ist irreführend – warum ist denn die Arbeitslosigkeit bei Schwarzen so hoch? Junge Künstler wie der Trompeter Christian Scott sprechen diese Probleme bereits in ihrem Werk an. Afroamerikanische Musiker der jüngeren Generation kennen sich auch mit Debussy und Stockhausen aus, doch die Kirche ist nach wie vor die geheime Musikschule der afroamerikanischen Community. Nur wer mit und in der Kirche aufwächst, erlebt jenes einmalige Zusammenspiel von Ekstase und Katharsis, das untrennbar mit der dort gespielten Musik verbunden ist. Man hört sofort, welcher Schlagzeuger aus dieser Schule kommt.

Der Blues konterte mit einer großen heldenhaften Gefühlswelt einst die grausamen sozialen Bedingungen, unter denen er entstand. Sie haben vorgeschlagen, aus der Kraft des Blues zu lernen, und die Hoffnungen nach vorn zu richten – das sei die Haltung, aus der Ihre Musik entsteht.
Dass Avantgarde ein Genre geworden ist, scheint mir ein Widerspruch in sich zu sein. Cecil Taylors und Ornette Colemans Wirkung reichen weit über den Jazz hinaus, auch die Association for the Advancement of Creative Musicians aus Chicago war sehr einflussreich auf die moderne Musik. Wer Jazz separieren möchte von der Welt der Kunst und Ideen, liegt falsch – alles gehört zusammen. Wenn man Zeit mit großen Komponisten wie Roscoe Mitchell oder Henry Threadgill verbringt, erfährt man, wie aktuell ihre Musik ist, wie sehr mit wichtigen gesellschaftlichen und ästhetischen Strömungen verbunden. Es geht darum, seinen Platz in dieser Nische zu finden. Ich will Musik machen, die von heute berichtet.

Das Gespräch führte Christian Broecking.

Der Pianist Vijay Iyer ist der Jazzmusiker des Jahrzehnts. Die Fachzeitschrift Down Beat bewertet Iyer als besten Jazzkünstler des Jahres und das in fünf verschiedenen Kategorien – das gab es in der 60-jährigen Geschichte der Zeitschrift noch nie. Iyer wurde 1971 in Rochester, New York, als Sohn indischer Einwanderer geboren. Er studierte an der University of California in Berkeley Musik und ging mit Anfang zwanzig zum ersten Mal auf Tour. In seiner Dissertation hat er den Zusammenhang von Körperhaltung und musikalischem Ausdruck untersucht. Kürzlich bezog Iyer mit seiner Frau und der gemeinsamen sechsjährigen Tochter ein eigenes Haus im New Yorker Stadtteil Harlem. Am 13. Februar tritt Vijay Iyer mit seinem Trio in der Berliner Passionskirche auf.

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