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Augen zu und durch. Der Dienstsitz des Sozial- und Jugendamtes des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald in Freiburg.

© Patrick Seeger dpa

Kindesmissbrauch in Freiburg: Im schwarzen Wald des Schweigens

Einzelfall und gesellschaftlicher Zusammenhang: Der Freiburger Missbrauchsskandal und seine Folgen.

Von Caroline Fetscher

Am erstaunlichsten ist das Erstaunen. Wie konnte das geschehen, heißt es jetzt. Woher ein so monströser Missbrauch?! Wer hätte das geahnt? Warum griff keiner ein? Der Fall liegt so: Zahlende Pädophile konnten einen acht, neun Jahre alten Jungen im Darknet als Sexualspielzeug buchen; Vermieterin war die Mutter, Komplize ihr Lebensgefährte.

Was das Landeskriminalamt (LKA) in Baden-Württemberg da vor einigen Tagen meldete, avancierte von einem zunächst lokalen und regionalen Fall zu einem, der bundesweit Empörungsschübe auslöste. Bereits im September 2017 waren die 48 Jahre alte Berrin T. und ihr zehn Jahre jüngerer Partner Christian L. in Untersuchungshaft gekommen. Mittlerweile sitzen auch fünf ihrer „Kunden“ ein, darunter der Bundeswehrsoldat Knut S.

Christian L. hatte 2014 in Freiburg vier Jahre Gefängnis wegen Pädokriminalität hinter sich, als er seine neue Freiheit zum Finden einer alleinstehenden Frau mit Kind nutzte.

Dieses Kind wurde zur „Förderung seiner Entwicklung“, wie das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald erklärte, seit dem Vorschulalter „vom Jugendamt betreut“. Dem Vermieter war aufgefallen, dass die Fenster vom Haus der Patchworkfamilie meist abgedunkelt waren. Auf einen anonymen Hinweis zum Zusammenleben des Pädokriminellen mit einem Kind nahm das Jugendamt den Jungen im März 2017 für einen Monat in Obhut. Die Mutter legte Beschwerde ein. Das Gericht schickte das Kind zurück in sein Nest aus Dornen. Es untersagte indes dem Mann „die gemeinsame Freizeitgestaltung mit dem Kind“. Darauf versprach die Mutter zu achten, und genau genommen hat das Paar sich an diese Auflage gehalten.

Ähnliches geschieht tausendfach

„Freizeit“ gestalteten sie nicht für das Kind. Vielmehr ließen die beiden Arbeitslosen den nun Neunjährigen für sich arbeiten. Zum Hartz-Bezug verdienten sie sich damit tausende Euro an Schwarzgeld dazu, auch mit dem Vertrieb von Videos, die sexuelle Misshandlungen an Minderjährigen zeigen. Vom LKA war zu hören, es sei der gravierendste Fall dieser Art, mit dem man je zu tun hatte. Doch „dass Kinder im Netz angeboten werden, passiert weltweit tausendfach“, erklärt der Jurist Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Dramatische Fälle wie der im Schwarzwald seien „nur die sichtbare Spitze des Eisbergs".

Der größte Fehler der Gerichte und Ämter in diesem Fall sei der Irrglaube, dass Mütter, Frauen nicht an solchen Straftaten beteiligt seien, sie nicht begehen, nutzen oder decken könnten. Im schwarzen Wald des Schweigens, den dieser Fall exemplarisch symbolisiert, ist das die dunkelste Dunkelheit. Nichts ist verständlicher, als die weltweit verbreiteten Mythen und Märchen der guten Mutter als Garantin von Schutz. Doch ziehen nicht Mütter die Machos groß, die marodierenden Soldaten und auch die Triebtäter? Von der elementaren Triebhaftigkeit der Gattung und damit von deren möglichen Pervertierungen waren Frauen noch nie ausgeschlossen. Nicht zuletzt sexuelle Frustration und Machtmangel im Alltag lassen Frauen nach Kindern als Ersatzobjekten greifen, wie etwa in Rosa von Praunheims erschütterndem Dokudrama „Härte“ von 2015 geschildert.

Am erstaunlichsten ist das Erstaunen erstens darüber, dass eine Mutter Mittäterin sein kann. Denn das ist Realität. Am erstaunlichsten ist das Erstaunen, zweitens darüber, dass Kinder im Netz angeboten werden. Millionenfach werden Missbrauchsvideos konsumiert. Allein die Anzahl der in Deutschland polizeilich erfassten Fälle von Besitz und Verschaffung solcher Videos beläuft sich auf rund 4000 pro Jahr. Das Interpol-System ICSE zur Identifizierung von Kindern auf Videos, die sexuelle Gewalt darstellen stellte bis Januar 2017 die Identität von über 10 000 kindlichen Opfern fest. Tausende anderer sind unidentifiziert.

Die Schulen müssen aufklären

Diese Videos im virtuellen Raum werden im analogen Raum produziert, mit echten, lebendigen Säuglingen, Kleinkindern und Schulkindern. Wie sollte es erstaunen, dass das auch im Schwarzwald passiert? Es passiert überall. Von der künftigen Bundesregierung fordert Johannes-Wilhelm Rörig klares Engagement für ein Gesetz zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch und flächendeckende Aufklärung, vor allem an Schulen.

Noch existiert ein dysfunktionales Patchwork aus Maßnahmen, in sich Symptom für den Wunsch zu zersplittern statt zu wissen und zu intervenieren. Rörigs Amt wurde 2011 ins Leben gerufen, als endemische Pädokriminalität an katholischen Schulen sowie an der reformorientierten Odenwaldschule ans Licht kam.

Eine Wolkendecke war aufgerissen. Das habituelle Verdrängen schien schlicht nicht mehr möglich. Auffällig allerdings waren die ideologischen Neigungswinkel. Eher konservative Medien stürzten sich mit mehr Ingrimm auf die Reformpädagogik, eher linksgrüne Medien mehr auf die Katholiken. Das je eigene Gesinnungsmilieu wurde in Konkurrenz zum anderen mit Skandalstoff bedient. Immerhin kam etwas in Bewegung.

Die Täter kommen aus allen Milieus

Doch Pädokriminalität ist nur zu einem Bruchteil das Problem von Institutionen. Über 90 Prozent der Taten geschehen im nächsten Umfeld: In den Familien sitzen die Täter, in allen Milieus. Und das ist das Pech der Kinder. Denn aus diesem Faktum lässt sich kein parteipolitischer Nutzen ziehen. Verantwortliche Erwachsene müssten über ihren politischen Schatten springen, um sich, wie Rörig und sein Team, dem Thema auszusetzen. Politische Akteure verhalten sich ähnlich wie Familien mit ihrer Sprache des Vertuschens und Bagatellisierens: Wird Zeit, dass der vergisst, was seine Mutter, sein Vater gemacht haben. Was werden die Leute denken, wenn das bekannt wird. Lieber nichts sagen, das ist ein Fass ohne Boden. Wühl doch nicht in den alten Geschichten rum, davon hat keiner was.

Sexuelle Gewalt bedeutet für ein Kind einen Bombenangriff auf die Landschaft seiner Seele. Die meisten dieser Bomben werfen Erwachsene in ihren eigenen Familien. Eine Gesellschaft, die zu sich kommen will, muss verstehen, warum solcher Sprengstoff entsteht. Sie muss Wissen erwerben über die Affekte von Individuen und die Strukturen von Gruppen. Das ist alles andre als „Psychokram“. Es ist das Wichtigste, was eine Gesellschaft für sich tun kann.

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800-22 55 530, Hotline des Unabhängigen Beauftragten des Bundes für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs: www.hilfeportal-missbrauch.de

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