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Bora Altas

© dpa

Wettbewerb: Das rote Band

Endlich: Das Festival hat ein Gesicht. Ein vorwitziges, nachdenkliches, aufmerksames, ein Gesicht mit braunen Knopfaugen und einer Stupsnase. Es ist das Gesicht des achtjährigen Bora Altas, der die Hauptrolle in Semih Kapanoglus „Bal“ spielt.

Und es wird in Erinnerung bleiben: sein skeptischer Blick, das zarte Lächeln, das Leuchten der Begeisterung, das kurz aufglimmt und dann wieder verlischt. Auf Anhieb hat dieses scheue, stille Kind alle Herzen gewonnen, wenn es sich schüchtern meldet im Unterricht, um das Märchen von dem Löwen und der Maus vorzulesen und dann, als es drankommt, fürchterlich versagt, vor Aufregung stottert, kein Wort hervorbringt. Dabei hatte der Junge doch zu Hause mit seinem Vater geübt, die täglichen Kalendereinträge stockend zwar, doch fehlerlos vorgelesen. Die ersehnte rote Belohnungsschleife aber, die der Lehrer in der Klasse verteilt, wird ihm bis zum Schluss vorenthalten werden. Und als er sie dann bekommt, ist es auch kein Trost.

Der türkische Regisseur Semih Kapanoglu ist in der Kindheit angekommen, mit seiner rückwärts erzählten Trilogie, die er nach „Ei“ (2007) und „Milch“ (2009) nun mit „Bal“ (Honig) abschließt. In der Kindheit des kleinen Yusuf, in seiner eigenen Kindheit, in unserer aller Kindheit. Und hat, so viel ist leicht vorherzusagen, damit einen der schönsten, dichtesten Filme dieses Festivals gedreht – aus ganz unspektakulären Ingredienzen komponiert. Endlich ist da, nach tagelanger Depression, ein Film, der träumen lässt, der das eigene Sehen, Empfinden zum Schwingen bringt, in einer so weiten wie stillen Welt. Es fühlt sich an wie Wind, wie Sauerstoff, nach allzu langer Konservenluft. Oder wie Sonne, die durch den Wald aus wunderbar turmhohen Bäumen fällt. Bislang war zu viel Unterholz.

Regisseur Kapanoglu ist bei seiner rückwärts erzählten Trilogie in der Kindheit angelangt

Dabei ist es nicht viel, was in „Bal“ zu sehen ist, Wald und Wiesen, Nebel und Herbstregen, ein hübsches Holzhaus mit bunten Teppichen, der tägliche Gang über matschige Straßen zur Schule. Zu Hause wartet die schöne, stille Mutter mit dem Essen, der bewunderte Vater, ein Bienenzüchter, ist meist unterwegs. Manchmal nimmt er Yusuf mit auf seinen Waldgängen, setzt ihn auf das weiße Pferd, lehrt ihn, welche Blumen welchen Honig geben. Und dann verschwindet dieser Vater irgendwann und kommt nicht zurück. Yusuf hat davon geträumt, und es seinem Vater ins Ohr geflüstert. „Verrat es keinem“, hat der gesagt. Träumen kann gefährlich sein.

So bescheiden das daherkommt – Kapanoglus Sujet, das erste Schuljahr eines kleinen Jungen, hat die ganze Wucht einer Tragödie. Und wuchtig beginnt auch der Film, mit einer atemberaubenden Balance-Szene, die er dann in der Schwebe hängen lassen wird, bis fast zum Schluss. Selbst die kleinen Dinge gewinnen überlebensgroße Bedeutung: das Glas Milch, das Yusuf jeden Morgen trinken soll und nicht will, das der Vater heimlich für ihn trinkt, in stillem Einverständnis, und das Yusuf dann irgendwann doch leeren wird, tapfer und wortlos, der traurigen Mutter zum Trost: ein Glas Milch austrinken, das ist schon eine große Tat. Die Milch hat dem Mittelteil der Trilogie, „Süt“, den Titel gegeben: Kapanoglu hat ihn im vergangenen Jahr beim Filmfest in Venedig vorgestellt und gerade ist er in den deutschen Kinos angelaufen. Und das Ei, Titel des letzten Teils, dient in „Honig“ noch ganz einfach dazu, Kekse für einen Vater zu backen, der niemals wiederkommt.

Gedreht wurde „Honig“ an der Schwarzmeerküste, im äußersten Nordwesten der Türkei, wo es die majestätischen Wälder gibt, die Nebel und den Regen, die Almen und Berge und die fast verlassenen Dörfer, die heute noch so aussehen wie vor fünfzig Jahren. Ein unzugängliches Drehgebiet, das mühsam erschlossen werden musste. Aber gleichzeitig eine überwältigende Naturbühne, auf der sich das Erwachen des Jungen abspielt.

Wie viel eigenes Kindheitserleben in dem Film steckt – man ahnt es an der Dichte, mit der Kapanoglu seine Erinnerungsbilder setzt. Yusuf, der sich unter Tränen in der Klasse durch seinen Text quält, wird als Jugendlicher zum Dichter werden. Einmal beobachtet er eine Klassenkameradin, die ein Rimbaud-Gedicht vorliest. Doch vorerst ist es die Poesie der Natur, die sein wacher Blick auffängt, eine Poesie ohne Worte, doch in ganz großen Bildern und Tönen. Dass das Summen von Bienen, das Flattern von Vogelflügeln, das Knacken von Ästen im Wald so aufregend sein kann – das ist eine unvergessliche Erfahrung.

Am Mittwoch 9.30 und 18 Uhr (Friedrichstadtpalast), 18. 2., 18.30 Uhr (Capitol Dahlem), 21. 2., 15.45 Uhr (Friedrichstadtpalast)

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