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© AFP

Das kurze Jahrhundert der Gewalt: Der europäische Bürgerkrieg

In seiner brillanten Studie von 1914 bis 1989 in Europa erklärt Enzo Traverso den europäischen "Bürgerkrieg". Wer etwas über die Natur des 20. Jahrhundert wissen will, wird an "Im Bann der Gewalt" nicht vorbeikommen.

Der italienische Politikwissenschaftler Enzo Traverso, der seit den 80er Jahren in Frankreich lehrt, hat sich in einer ganze Reihe von bemerkenswerten Büchern mit Fragen von Moderne und Gewalt, von Rationalität und Barbarei und der Singularität der Schoah („Auschwitz denken“) auseinandergesetzt. Sein neues Buch ist dem „europäischen Bürgerkrieg“ gewidmet. Bei diesem Begriff denken hierzulande die meisten wohl zuerst an Ernst Nolte und sein unglückseliges gleichnamiges Buch aus dem Jahr 1987. Tatsächlich aber ist die Wortprägung viel älter. Franz Marc schrieb im November 1914 in seinem Essay „Das geheime Europa“, der gegenwärtige Krieg sei ein „europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren unsichtbaren Feind des europäischen Geistes“.

Der Erste Weltkrieg ist das Schlüsselereignis zum Verständnis des kurzen 20. Jahrhunderts, das von 1914 bis 1989 dauerte. Das traditionelle Bündnissystem der europäischen Großmächte zerbrach. Im ersten totalen Krieg wurden alle Bürger der am Krieg beteiligten Nationen, auch Künstler und Intellektuelle, zu Kombattanten. Der europäische Kosmopolitismus starb auf den Schlachtfeldern. An die Stelle der Kabinettskriege traten Kriege und ethnische Konflikte, die nichts und niemanden schonten. Der Erste Weltkrieg gestaltete die politische Landkarte Europas völlig um und er zog eine Welle von Völkerverschiebungen und Bürgerkriegen nach sich, deren zentrales Charakteristikum die Entgrenzung der Gewalt war. Als Folge der Friedensverträge von 1919 mussten mehr als zehn Millionen Menschen ihre Heimat verlassen.

Ernst Noltes Darstellung des europäischen Bürgerkriegs setzte im Februar 1917 ein, mit der russischen Februarrevolution. Der Erste Weltkrieg begann aber im August 1914. Traverso lehnt Noltes auf ideologische Konflikte fixierten „apologetischen Ansatz“, der die Judenvernichtung auf ein Nebenprodukt der nationalsozialistischen Terrorherrschaft reduzieren möchte, ebenso ab wie die „antisemitische Sicht“ der Juden als Agenten der Modernisierung und des Bolschewismus.

Im zweiten Teil: Militarisierung der Politik

Das Thema von Enzo Traverso ist die Gewalt, die gesamteuropäische Kultivierung und Praktizierung kriegerischer Gewalt in einem „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“. Dieses Zeitalter der Gewalt hatte eine europäische Dimension. Traverso betont, dass auch die Ablehnung der Ideen von 1789 einen großen Teil der europäischen Kulturlandschaft der Zwischenkriegszeit geprägt hat. Nationalismus, Antisemitismus, antidemokratischer Elitismus und Faschismus faszinierten Intellektuelle nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Italien und selbst in Großbritannien.

Im ersten Teil seines Buches, „Schritte zur Tat“, analysiert Traverso die Anatomie des Bürgerkriegs, wobei er sich mit den Theorien von Carl Schmitt und Leo Trotzki zum Bürgerkrieg, zu Diktatur und Terror auseinandersetzt. Weitere Themen sind der Krieg gegen die Zivilisten hinter der Front, der in dieser Form ein Novum war, und schließlich „Das Gericht über den Feind“. In dem Moment, in dem nicht mehr Herrscher ihre Armeen gegeneinander aufmarschieren lassen, sondern Nationen miteinander kämpfen, wird der Kriegsgegner zum Feind, entsteht ein Sanktionsanspruch, der über den Krieg hinausreicht. Es ist kein Zufall, dass in der Epoche des europäischen Bürgerkriegs das Völkerrecht sich erstmals mit der Kriegsführung befasste. Es begann mit der Haager Landkriegsordnung, mit der man versuchte, die Kriegsführung in bestimmten, die Gewaltanwendung beschränkenden Bahnen zu halten, was sich schon im Ersten Weltkrieg als unmöglich erwies. In den 20er Jahren standen bei den Leipziger Prozessen erstmals deutsche Kriegsverbrecher vor einem Gericht. Und im November 1945 begann dann der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg, auf den Traverso ausführlich eingeht.

Die liberale Option war gescheitert

Im zweiten Teil seiner brillanten Studie wendet sich Enzo Traverso den „Kriegskulturen“ zu, den Konfliktexplosionen, der Militarisierung der Politik, dem nationalistischen Fieber der intellektuellen Mobilmachung. Der Autor berücksichtigt dabei auch die ganze Bandbreite kulturellen und intellektuellen Lebens in jenen Jahren, wobei der Leser sehr von seiner Kenntnis der Geschichte der Länder Südeuropas profitiert. Besondere Aufmerksamkeit widmet Traverso dem Spanischen Bürgerkrieg. In dieser Auseinandersetzung erreichte der europäische Bürgerkrieg seinen greifbarsten Ausdruck. Zahlreiche Schriftsteller aus aller Herren Länder – zum Beispiel Ernest Hemingway, George Orwell, André Malraux und Octavio Paz –, aber auch zahllose andere Kriegsfreiwillige kämpften in den Internationalen Brigaden für die Verteidigung der Republik. Eric Hobsbawm schreibt in seinem Buch „Das Zeitalter der Extreme“, und Traverso zitiert ihn: „Damals verlief für alle, die gegen den Faschismus kämpften, die entscheidende Front in Spanien.“ Das Zitat liefert ein wichtiges Stichwort.

Die liberale Option war gescheitert. Die Deutsche Demokratische Partei ist ein markantes Beispiel dafür. War die Partei im Januar 1919 auf 18,5 Prozent der Stimmen gekommen, waren es im März 1933 nur 0,9 Prozent. Es gab kaum liberale Bürger, die bereit waren, die deutsche Demokratie zu verteidigen. Thomas Mann war eine rare Ausnahme. Die Polarisierung des intellektuellen Lagers war aber auch für die Situation in anderen Ländern kennzeichnend. An die Stelle der „Dreiecksbeziehung“ zwischen Liberalismus, Kommunismus und Faschismus war eine klare Frontstellung getreten, bei der es nur noch um Faschismus und Antifaschismus ging. Traverso formuliert es so: „Den Westeuropäern erschien die UdSSR eher fähig zu sein, den Faschismus aufzuhalten als ein immer weiter zerfallender Liberalismus.“ Es entstand eine antifaschistische Einheitsfront, die sogar vor den Schrecknissen der Moskauer Schauprozesse die Augen verschloss. Diese Einheitsfront zerbrach erst, nachdem Hitler besiegt war und Europa zum Schauplatz der Ost-West-Konfrontation wurde. Den endgültigen Todesstoß versetzte ihr der sowjetische Einmarsch in Ungarn 1956.

Der Kalte Krieg beendet den europäischen Bürgerkrieg

Mit dem Einfrieren der Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg endet der europäische Bürgerkrieg, dessen Tableau Enzo Traverso so glänzend entfaltet. Hier endet aber nicht sein Buch. Es ist bezeichnend für die Perspektive des Autors, dass das letzte Kapitel „Auschwitz“ heißt. Traverso ist ein marxistisch geschulter, unabhängiger Denker. Er will die politischen Subjekte gegen blinden Fortschrittsglauben immunisieren. Seine Absicht ist die Aufklärung über das Grauen, soweit das überhaupt möglich ist. Schonungslos analysiert er deshalb im Schlusskapitel seines Buches die Blindheit der antifaschistischen Intellektuellen gegenüber dem Holocaust, „der größten Tragödie dieses Jahrhunderts“. Als bezeichnendes Beispiel für diese Blindheit zitiert Traverso Jean Paul Sartres Aufsatz „Überlegungen zur Judenfrage“ aus dem Jahr 1946.

Horkheimer und Adorno haben Auschwitz die „Selbstzerstörung der Vernunft“ genannt. Die instrumentelle Verstümmelung der Vernunft lässt auch angesichts des siegreich beendeten Krieges keine Gesten des Triumphes zu. Enzo Traverso plädiert stattdessen für eine „prometheische Scham“: „Angesichts des Schauspiels einer Zivilisation, die die moderne Technik in eine ungeheuere Vernichtungsmaschine verwandelt hatte, war das einzige noch mögliche die Scham.“

Wer etwas über die Natur des 20. Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts, aus dem wir alle kommen, wissen will, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen.

– Enzo Traverso:

Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945. Siedler Verlag, München 2008. 399 Seiten, 24,95 Euro.

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