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Bereska

© Ullstein

Henryk Bereska: Ich kam, sah und ging

Er war ein märkischer Antiheld des Sozialismus. Die Stasi hatte ihn im Visier. Eine Entdeckung: Die Tagebücher des Berliner Übersetzers Henryk Bereska

"Wie oft hat man mir, der zwischen zwei Stühlen saß, einen bequemen Sessel angeboten. Ich lehnte dankend ab.“ Nur wenige kennen den Autor dieses Aphorismus, den 2005 verstorbenen Berliner Henryk Bereska, einen der bekanntesten Übersetzer polnischer Literatur, auch als Tagebuchschreiber, Dichter und Aphoristen. Einen Einblick in dieses zweite Leben Bereskas, eines frei denkenden, weltoffenen Künstlers in tiefsten „DDR-Zeiten“ geben die „Kolberger Hefte“, eine von Ines Geipel und Joachim Wahlter herausgegebene Auswahl seiner Tagebücher aus fünf Jahrzehnten (1967–1990).

In einer Bergmannsfamilie in Schlesien aufgewachsen, flüchtete Bereska 1947, vom polnischen Sicherheitsdienst bedrängt, nach Ost-Berlin. Nach seinem Kriegsabenteuer bei der Hitlerjugend und der Luftwaffe, wo er eine Ausbildung absolvierte, ohne jedoch am Kriegsgeschehen teilzunehmen, identifizierte sich Bereska nie wieder restlos mit einer Ideologie oder einer Nation. Als Absolvent der Polonistik der Humboldt-Universität zu Berlin wurde er Lektor für polnische Literatur im Aufbau-Verlag, kündigte jedoch 1955 aus politischen Gründen seine Stelle und wählte für den Rest seines Lebens die unsichere Existenz als Freiberufler.

Er übersetzte unzählige Werke polnischer Literatur ins Deutsche, u. a. Mickiewicz, Wyspianski, Witkacy, Mrozek, Milosz, Rózewicz, Herbert und Herling-Grudzinski, er wurde dafür mit zahlreichen Preisen geehrt. Viele sehen in ihm das Pendant zum westdeutschen Übersetzer der polnischen Literatur, dem prominenten Karl Dedecius. Und in der Tat steht Bereska dem langjährigen Direktor des Polen-Instituts in Darmstadt in nichts nach, was die Quantität und Qualität der Übersetzungen angeht.

Emotionen weckt in der Regel Bereskas Biografie, vor allem die Frage, warum er in der DDR geblieben ist und warum er nicht verhaftet wurde. Seine mehr als 1000 Seiten umfassenden Stasi-Akten lassen den Schluss zu, dass er ein Leben lang unter Beobachtung stand. Vor allem aufgrund seiner Kontakte mit der polnischen Opposition und mit unbotmäßigen ostdeutschen Intellektuellen wie Erich Arendt, Peter Huchel, Manfred Bieler, Boris Djacenko, Norbert Randow und Werner Kilz, von denen manche verhaftet wurden, manche geflüchtet sind. Henryk Bereska blieb in der DDR, in seiner privaten Berliner Enklave und seiner Hütte im brandenburgischen Kolberg. Anscheinend fiel es ihm schwer, diese Orte zu verlassen, und da er die Literatur des Brudervolks propagierte, ließ man ihn gewähren.

Die „Kolberger Hefte“ beinhalten Impressionen zum Familien- und Kneipenalltag, verzeichnen persönliche Erfolge und Misserfolge, helfen dem immer wieder Abdriftenden, seinen Lebensprinzipien und Zielen treu zu bleiben, schulen seine Wahrnehmung der Wirklichkeit. Notizen zur Plutarch- und Horkheimer-Lektüre oder zur Anziehungskraft der Utopie haben hier denselben Rang wie das Pilzesammeln oder das Zubereiten einer Hühnersuppe.

Die Tagebücher vermitteln das Bild eines zwischen Broterwerb und dem Drang zum schöpferischen Schaffen zerrissenen, mit seinen Schwächen und um seine Träume ringenden Menschen. Geldarbeit geht vor, es fehlt Zeit für die Poesie – so wird Bereska zum Meister im Beschreiben „von Unterlassungssünden und vergeudeten Möglichkeiten“.

Bereska hat sich selbst nie zum Oppositionellen gemacht. Er war jedoch ein Individualist und kritischer Beobachter des Alltags, auch des politischen – vor allem in seinen Aphorismen, von denen einige den Eingang ins Tagebuch gefunden haben. Doch auch in seinen täglichen Notizen greift Bereska politische Ereignisse auf. Natürlich muss er viel verschweigen, schmuggelt aber dennoch Ereignisse wie den Prager Frühling oder Protestwellen der polnischen Solidarnosc-Bewegung hinein, indem er aus Medienberichten zitiert und an markanten Stellen abbricht, um Raum für ironisches Schweigen zu lassen. Mitunter formuliert er deutliche Kritik an den Missständen im sozialistischen Staat und spricht Tabuthemen an – die Verlogenheit der Propagandasprache, die Kriminalität, die Verzweiflung der Bürger, Selbstmorde, Schikanen, Verleumdungen, die Paranoia der Mauer.

Bereskas Selbsterschaffung in den Tagebüchern der sechziger und siebziger Jahre ist die eines Antihelden der sozialistischen Literatur: Er gibt Süchten nach, stellt sich für die mangelnde Selbstdisziplin an den Pranger, immer zerrissen zwischen dringenden Arbeiten und dem Bedürfnis nach menschlicher Interaktion. Die Kneipe avanciert zum privaten Raum der Freiheit, zum Ort unverfälschter menschlicher Kommunikation. Hier trifft der begnadete Zuhörer Bereska Aussteiger, die weit vom Ideal des sozialistischen Musterknaben entfernt sind. Ähnlich verhält es sich in seinen asketischen, in der DDR nicht gern gesehenen Gedichten, deren erster Band „Lautloser Tag“ 1980 in Westberlin erschien. Mit wortkarger Ironie, Distanz zu sich selbst, zurückhaltender Zärtlichkeit, (schwarzem) Humor und Wortspielen hält diese – auch in den Tagebüchern präsente, von jeglichem Moralisieren freie – Lyrik Alltagswunder und Paradoxien fest, drückt Solidarität mit bunten Vögeln aus, Nonkonformisten, Rebellen. Bereska protestiert gegen ihren Ausschluss aus der sozialistischen Gesellschaft („Das fünfte Rad am Wagen – wichtig, sehr wichtig“, schreibt er in einem Aphorismus), verweist auf die letzten Konsequenzen des Fremdenhasses im Nationalsozialismus. Am meisten empört ihn jedoch das Schweigen der Verbrechenszeugen.

Ein anderer Raum der Freiheit in den Tagebüchern und den Gedichten ist die Natur – als Ort angestrengter Arbeit, Flucht und Inspiration. Bereska beschreibt sie mit großer Sensibilität, das Leben in der sandigen Landschaft um Kolberg herum bringt eine beinahe mystische Katharsis mit sich. Dort lebt sein Protagonist wie ein Einsiedler, im Einklang mit Wildgänsen und Krähen. Und dort bereitet er sich auf seine letzte Reise vor, bei der der Sarg ein Boot aus Kiefernholz ist, „mit dem er in den Sand fahren wird“. Die lautliche Verwandtschaft von Sand und Sarg unterstreicht sein Bestreben, den Tod, ein großes Thema seiner Lyrik, als Rückkehr in den ewigen Kreis des Lebens zu betrachten. Die Bootsmetapher ist für Bereska symptomatisch – das Übersetzen verglich er oft mit der Rolle eines Fährmanns.

Es entsteht das Porträt eines transkulturellen Menschen, der jegliche Art von Untertanenmentalität, Fanatismus und Radikalismus verurteilt und das andere bewundern kann, ohne es gleichzeitig demütigen oder domestizieren zu wollen. Ein Aphorismus noch zum Schluss: „Anticäsarisch. Ich kam, sah und ging.“ Sieg, Unterordnung und Kolonisierung des Fremden sind für Henryk Bereska nicht erstrebenswert. Entscheidend ist der Kontakt. Man kann darin die Umrisse eines neuen Kulturmodells erkennen.

Henryk Bereska: Kolberger Hefte. Tagebücher 1967 – 1990. Hg. von Ines Geipel und Joachim Walther. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2008. 363 S., 19,90 €.

Brigitta Helbig-Mischewski

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