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Politisches Buch: Auf der Müllkippe der Gesellschaft

Aufklärung im besten Sinne: Wieder stürzt sich Günter Wallraff inkognito in das deutsche Arbeitsleben.

Günter Wallraff ist eine Legende. Seit mittlerweile mehr als vierzig Jahren schreibt er seine Sozialreportagen, setzt sich persönlich ein, begibt sich in Gefahr, recherchiert direkt in den Bereichen, über die er berichtet. Im Schwedischen hat man für diese Undercoverrecherchen ein eigenes Wort gefunden: „wallraffa“. Manche Skeptiker allerdings behaupten, der 67-jährige Reporter sei ein Fossil aus einer anderen Zeit, nicht mehr ganz gegenwärtig, etwas lächerlich sogar, weil er sich mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt partout nicht abfinden wolle.

Acht Reportagen hat Günter Wallraff in seinem neuen Buch versammelt, zuvor waren diese zumeist in der „Zeit“ veröffentlicht worden. Als „Michael G.“ recherchierte Wallraff den Alltag in deutschen Callcentern; als Tagelöhner arbeitete er bis zur Erschöpfung in einer Fabrik, die für den Discounter Lidl Brötchen backt; als Obdachloser verbrachte er die kältesten Tage und Nächte des Winters auf der Straße; und als geschminkter Schwarzer erlebte er den ganz gewöhnlichen Rassismus in Deutschland.

Dem Buch hat Wallraff den Titel „Aus der schönen neuen Welt“ gegeben, nach dem Original „Brave New World“ des britischen Schriftstellers Aldous Huxley. Darin wurde 1932 eine Zukunftsvision entworfen, in der die Menschen manipuliert werden und ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten zunehmend entfremdet. „Konsum und Spaßzwang sind im negativen Gesellschaftsentwurf von Huxley die Fesseln, die den Menschen Individualität, Erkenntnismöglichkeiten und Widerstandskraft abschnüren“, schreibt Wallraff in seiner „Nachbemerkung“. Huxleys Schreckensvision scheine sich verwirklicht zu haben, meint Wallraff.

Im Umfeld von Bahnangestellten hat er Tendenzen wie unter einer Diktatur beobachtet: Angestellte treffen sich konspirativ, um sich auszutauschen, Angst regiert, Vorgesetzte lassen überwachen, bespitzeln, manipulieren. „Mein Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie hat einen Knacks bekommen“, zitiert Wallraff einen ehemaligen leitenden Angestellten aus dem Bahnvorstand.

Im Callcentermilieu erlebt Wallraff – wie bei Huxley – „freiwillige Unterwerfung, Autosuggestion und Selbsthypnose“und „offenen Betrug als Geschäftsgrundlage“. „Wir wurden ein verschworener Haufen“, bekennt Wallraff, „fast wie eine Sekte, für die andere Gesetze und Moralmaßstäbe galten als für den Rest der Welt. Das alles geschah nicht bewusst. Es geschah einfach. Der Übergang zum routinierten Betrüger war fließend, ein schleichender Prozess. (…) Man blendet aus, dass man die Leute nach Strich und Faden bescheißt.“

Über Betriebsrecherchen macht Wallraff den Anwalt Helmut Naujoks aus Düsseldorf ausfindig, der sich darauf spezialisiert hat, unliebsame Betriebsräte, Schwerbehinderte oder Schwangere aus Betrieben zu mobben. Für diese menschenverachtende Beratung wird ein Heidengeld bezahlt, Stundensätze von 350 Euro sind die Regel. Und Naujoks gilt als feste Adresse in der Branche. Wallraff begegnet ihm schließlich in einer Hotelsuite als vermeintlich millionenschwerer, aber kranker Unternehmer im Rollstuhl. Der Rechtsanwalt durchschaut die Maskerade nicht und legt sich mächtig ins Zeug, um einen neuen Auftrag zu erhaschen: „Ich vertrete ausschließlich Arbeitgeber“, erklärt Naujoks im Gespräch. „Ich mache nur Arbeitsrecht, und zwar ein ganz spezielles Arbeitsrecht. Bei mir fängt die Arbeit erst an, wenn die anderen Anwälte sagen, es geht nicht. In der Regel sind meine Gegner Betriebsräte und die Gewerkschaften. Mein Ziel ist es, dass diese Betriebsräte das Unternehmen verlassen. Davon lebe ich.“

Wallraffs Recherchen sind empörend. Er versteckt sich in seinen Reportagen auch nicht hinter verkrampfter Objektivität. Er sagt „ich“, wenn „ich“ gemeint ist. Er gibt eigene Skrupel zu, ermöglicht Einblicke in sein Gemütsleben, verhehlt auch nicht seine privilegierte Außenseiterrolle, wenn er schreibt: „Ich muss nicht um meinen Job fürchten wie die anderen.“

Wallraff verkleidet sich, weil er hinter die Maskerade der anderen dringen will, der Mächtigen, der Tonangebenden, der Skrupellosen. Seine Reportagen sind aufklärerisch im besten Sinne. Er betreibt keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern liefert Zahlen und Fakten. Er fragt weiter, wo andere nicht weiter denken. Stilistisch sind die Texte nicht geschliffen. Die Reportagen sind aber gut zu lesen und sie wirken authentisch und redlich. Günter Wallraff ist sich treu geblieben.

– Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 336 Seiten, 13,95 Euro.

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