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Rezension: Sieben Jahre Bergenstadt

Großes Welttheater gibt es nur in der Provinz: Stephan Thomes gewaltiger Roman „Grenzgang“

Grenzgang in Biedenkopf – das ist ein Fest, das seinesgleichen in deutschen Landen sucht.“ So steht es auf der Homepage der hessischen Gemeinde Biedenkopf, gelegen an der oberen Lahn, ein romantischer Luftkurort nicht weit von Marburg. Das Besondere ist, dass dieses Fest nur alle sieben Jahre stattfindet: An drei Sommertagen überschreiten die Biedenköpfer Bürger die Grenze des Stadtwaldes und der Ausgelassenheit, feiern einen Brauch, der aus dem 19. Jahrhundert stammt und seinen Ursprung in mittelalterlichen Streitigkeiten um Ländereien hatte.

Stephan Thome, studierter Philosoph und Sinologe, wurde 1972 in Biedenkopf geboren, und sein erster Roman trägt den doppeldeutigen Titel „Grenzgang“ – denn nicht nur das Volksfest ist gemeint, sondern auch das, was die Figuren auf ihrer holprigen Suche nach dem Glück stets tun müssen: eigene Grenzen überschreiten. Aus Biedenkopf wird in dem Buch das Städtchen Bergenstadt – so wie bei Martin Walser aus Stuttgart einst Philippsburg wurde oder bei Sherwood Anderson aus dem Örtchen Clyde „Winesburg, Ohio“. Bergenstadt, Philippsburg, Winesburg – das sind Pseudonyme und Symptome; sie könnten irgendwie heißen und fast überall sein.

Sie stehen klein auf einer Landkarte und bedeuten doch ein Universum aus Zweifel und Verzweiflung, Sehnsuchtsmut und Duldsamkeit; Bergenstadt – das ist die Provinz als Welttheater. „In Bergenstadt machte man nicht das Beste aus seinem Leben, und er mochte das. Die Welt war voller Leute, die an ihrem aufgeblasenen Ego hingen wie an einem Heißluftballon ohne Gondel: Zappelnd, grotesk, vom Absturz bedroht.“ Vielleicht brauchen Thomes Figuren das Abgelegene, um ihrem Scheitern ohne Lebenslügen auf die Spur zu kommen; ihrem Unglücklichsein aber könnten sie auch an jedem anderen Ort begegnen.

Thomas Weidmann ist einer der zwei Helden von Thomes eindrucksvollem Debüt: Weidmann hatte es schon nach Berlin geschafft, wäre dort fast Professor geworden, hätte ihn nicht sein Habilitations-Vater kurz vor dem Ziel ausgebremst – ein Riss im Lebenslauf. Er kehrt Universität und Freundin den Rücken, um sich auf vertrautes Terrain zurückzuziehen. Am Grenzgang-Wochenende 1999 fährt er nach Bergenstadt – wo er als Geschichtslehrer am örtlichen Gymnasium stranden wird, mit einer Einsamkeit, die zwar auszuhalten ist, von der er aber nicht weiß, was sie mit ihm anstellt.

„Die Bergenstädter Genügsamkeit, das Mostige – auch davon hatte der Bürgermeister am Marktplatz gesprochen, wenngleich in anderen Worten. Und er, Thomas Weidmann, war dem nie entkommen. Was damals in den ersten Berliner Jahren in ihm eher geglimmt als gebrannt hatte, war ein mit Bergenstädter Phlegma durchsetzter Ehrgeiz gewesen, der vor allem der Form genügen und sich ein gutes Gewissen für den Fall des Scheiterns erarbeiten wollte. Mehr nicht oder jedenfalls nicht viel mehr.“

Kerstin Werner ist das Bergenstädter Phlegma nicht angeboren, aber ihr Ehrgeiz bleibt ebenfalls irgendwann auf der Strecke: Sie studiert Sport, will ein Tanzstudio eröffnen – und landet in Bergenstadt. Ihre Studienfreundin Anita lädt sie 1985 zum „Grenzgang“ ein, wo Kerstin ihren Mann kennenlernt, den Anwalt Jürgen Bamberger. 14 Jahre später ist es mit der Liebe vorbei – er flüchtet sich zu einer Jüngeren, sie bleibt mit ihrem Sohn Daniel und einer demenzkranken Mutter allein. Wieder ist es ein Grenzgangfest, an dem sie erstmals Weidmann begegnet. Wie Thome die Gesten der Annäherung und Abstoßung, die Unsicherheit, das Peinigende dieser sich entwickelnden Beziehung schildert, ist sprachlich genau und unnachgiebig, und von einem immensen Einfühlungsvermögen.

Thome ist ein Erzähler, der seinen 450-Seiten-Roman sehr genau komponiert hat: Wir wissen immer schon ein bisschen mehr über die Zukunft der Figuren als sie selbst: Der Autor führt uns seine Protagonisten in Sieben-Jahres-Schritten vor. Er entnimmt Stichproben aus der Biografie, und immer zum Grenzgangfest – 1985, 1992, 1999, 2006 und 2013 – scheint etwas weiterzurücken, scheint sich etwas zu erneuern, scheinen neue Weichen gestellt zu werden, „in Bergenstadt bewegen sich die Dinge eben nur in den Grenzgangjahren.“

Die sieben Jahre dazwischen lassen sich mitlesen: Sie sind den Figuren ins Gesicht geschrieben. Die heiligen sieben Jahre sind der Takt, in dem erzählt wird, die Grenzgangfeste geben dem Roman seine Form. Dabei geht Stephan Thome nicht chronologisch vor, sondern springt raffiniert zwischen den Zeiten hin und her, so dass die Komplexität seiner Figuren schichtweise freigelegt wird – immer ein bisschen mehr, ein bisschen tiefer, bis sie verlorener und zugleich würdevoller erscheinen.

Zu Anfang wirkt diese Erzählstrategie etwas langatmig – bis man bemerkt, dass die lange Weile nötig ist, um die Enttäuschungen und Wunschträume der Figuren in Szene zu setzen. Dann gewinnt das Buch an Rasanz, mehr an innerem als an äußerem Tempo: Was sich hier tut, spielt sich in den Protagonisten ab – und in Thome haben sie einen Autor gefunden, der über die Sprache verfügt, ihnen die Pein und den Missmut von der Seele zu schreiben, sie in Situationen hineinzumanövrieren, die etwas Zwangsläufiges und Kontingentes haben.

Am Ende, im Epilog, der zum „Grenzgang“ ins Fußball-WM-Jahr 2006 zurückführt, wird auch das heimliche Programm des Romans formuliert: „Das hier mag der Anfang oder das Ende sein, der Aufbruch oder das Ziel. Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal. (…) Was es allenfalls gibt, sind Kreuzungen in Raum und Zeit, und wenn man dort steht, sieht man einen Moment lang alles: die Wege, die man gegangen ist, die anderen, die man hätte gehen können, und die ganz anderen, an die man nie gedacht hat.“

Stephan Thome: Grenzgang. Roman. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main 2009. 452 Seiten. 22,90 €.

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