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Kultur: Lyrik fürs Leben

Wie Dichter und Bürger eine Stadt verändern: Eindrücke vom Poesiefestival im kolumbianischen Medellín

Sie lesen im Botanischen Garten inmitten von Palmen und Orchideen. Sie lesen im Freilufttheater, wo eng umschlungen Teenager sitzen und Popcorn-Verkäufer eine Pause machen, um Gedichte zu hören. Im Park picknicken Großeltern mit ihren Enkeln und lauschen den Poeten. Die sind aus der ganzen Welt nach Medellín gekommen und tragen auf hebräisch, paschtunisch, japanisch oder türkisch ihre Texte vor, ein Dolmetscher überträgt sie ins Spanische. Und manchmal, in einem der ärmsten Viertel der Stadt etwa, wo eine Frau sagt, sie habe ein Jahr lang auf das Festival gewartet, lesen die Zuhörer nach den Dichtern auch eigene Texte vor.

Vielleicht liegt darin der Zauber des Medellíner Poesiefestivals, des wichtigsten in Lateinamerika: Die Bewohner der Stadt haben es sich zu eigen gemacht. Enthusiastisch und ohne Berührungsängste haben sie die rund 90 Autoren aus 50 Ländern empfangen, darunter Cees Nooteboom, den Schweizer Raphael Urweider und den 22-jährigen Berliner Poetry-Slammer Julian Heun. Eine Woche lang haben sie an 120 Orten in und um Medellín gelesen, an diesem Samstag geht das Treffen zu Ende. „Wie wir aufgenommen wurden, ist überwältigend“, sagt Heun, dessen sprachspielerische Texte schwer ins Spanische zu übersetzen sind, aber dessen Rhythmen und Reime vor allem beim jungen Publikum trotzdem gut ankamen.

Welche Kraft Poesie hat, hängt auch von den Umständen ab, unter denen sie entsteht. Die waren in Medellín lange schwierig. Die zweitgrößte Stadt Kolumbiens mit rund zwei Millionen Einwohnern, gelegen in einem Andental, galt in den Neunzigern als Mordhauptstadt der Welt. Gitter vor den Fenstern der roten Backsteinhäuser zeugen noch heute davon: Kokain-Kartelle und paramilitärische Todesschwadronen terrorisierten die Stadt mit Bomben, Vergewaltigungen, Schießereien. Bei Einbruch der Dämmerung wurden Fenster und Türen verschlossen, das kulturelle Leben lag brach. „Wir hatten die Wahl“, sagt Fernando Rendón, Leiter des Festivals, das 1991 begründet wurde, in einem Jahr, in dem mehr als 7000 Menschen umgebracht wurden. „Fliehen – oder handeln.“ Rendón und einige Freunde, alle selbst Poeten, trotzten den Umständen - und genau darin fand das Festival zu seiner heutigen Stärke. Die Macher fanden ein Publikum, das sich im Bedürfnis nach einem geschützten Raum, nach gemeinsamem Erleben und Ausdruck von Empfindung und Erfahrung mit ihnen verbündete. Gebrauchslyrik, im besten Sinn.

Vor 20 Jahren lasen auf dem Cerro Nutibara, dem höchsten Berg der Stadt, vor 500 Zuhörern das erste Mal kolumbianische Dichter, einen Nachmittag lang. Soldaten kamen, erzählt der heute 60 Jahre alte Rendón, wollten die Genehmigung sehen und das kurze Programmheft: „Da fand etwas statt, was sich von unser aller Lebenswirklichkeit vollständig unterschieden hat.“ Sie ließen weiterlesen.

Auch heute noch wird das Festival im Freiluft-Theater auf dem Cerro Nutibara eröffnet, im frühlingshaften Klima Medellíns, allein am ersten Abend vor 1500 Zuhörern. Von einem kleinen und mutigen Zeichen gegen die Gewalt, vom Gedicht als Gegengewicht, ist es zu einem der bedeutendsten Poesiefestivals der Welt gewachsen – mit der Stadt, in die Stadt hinein. Mitte der 90er wurden die großen Kartelle zerschlagen, die Paramilitärs vor einigen Jahren offiziell entwaffnet. In die Armenviertel Medellíns, hoch in den steilen Berghängen gelegen, führt nun eine Seilbahn, Schulen und Bibliotheken sind entstanden. Das Festival, das hauptsächlich von städtischen Geldern und internationalen Förderern finanziert wird, trug als erstes großes Kulturereignis Medellíns und Impulsgeber für Veranstaltungen in Musik und Kunst einen wichtigen Teil zum wieder erwachenden öffentlichen Leben bei.

Vor fünf Jahren haben Rendón und seine Kollegen den alternativen Nobelpreis der schwedischen Right-Livelihood-Stiftung bekommen. Die Veranstalter hätten gezeigt, wie „Schönheit und Kreativität Angst und Gewalt überwinden können“, hieß es in der Begründung. Rendón sagt, er verstehe das Festival weniger politisch als tief humanistisch - und essentiell poetisch. Gelesen wird heute im fließenden Übergang von Lyrik zu Rap, von lokalen Besonderheiten zu Universellem, thematisch so vielfältig wie die Poeten selbst. Während Poesie im Deutschen zumeist in die Stille, ins Buch verbannt wird, ist sie in Medellín soziales Gut und kommunikativer Akt. „Bei uns hat das Gedicht das Miteinander als seinen angestammten Platz verloren“, sagt Thomas Wohlfahrt, Leiter des Poesiefestivals Berlin, der in diesem Jahr zum Treffen der Festivalmacher eingeladen ist. Neben der Gründung eines weltweiten Netzwerks der Festivals war unter den rund 40 Organisatoren auch Thema, wie Kinder und vor allem Lehrer wieder für Poesie begeistert werden können. Auch in Europa soll das Gedicht mit vereinten Kräften zurück ins Leben geholt werden.

Medellín, das internationales Flair sonst eher entbehrt, öffnet in der Festivalwoche ein Fenster zur Welt. „Wir haben es immer als einen Akt der Solidarität begriffen, wenn die Menschen zu uns gekommen sind“, sagt Fernando Rendón. Drohungen gab es mehrfach, gegen das Festival, gegen Rendón. Auch heute noch wird in Kolumbien ein bewaffneter Konflikt ausgefochten, gibt es Viertel in der Hauptstadt, die von Bandenkriegen erschüttert werden. Passiert jedoch ist während des Festivals noch nie etwas. Noch ein Zeichen für die Kraft der Poesie.

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