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Traumgespinste. Tilo Baumgärtels 200 mal 150 Zentimeter großes Gemälde „Helia“ aus dem Jahr 2013 eröffnet romantische Rückzugsräume.

© Uwe Walter

Malerei am Rand der Wirklichkeit: Volle Dröhnung

Mythen, Monster, Mutationen: Das Haus am Lützowplatz zeigt mit der Ausstellung „Die halluzinierte Welt“ einen faszinierenden Einblick in die Fantasiewelten zeitgenössicher Malert.

Die Eingeweide quellen aus dem Leib der zersägten Frau. Dabei ist ihr Oberkörper quicklebendig. Gerade füttert der Tod die Halbierte wie einen Säugling. In dem deftigen Gemälde „Anatomietheater der Grausamkeit“ setzt sich die Malerin Alex Tennigkeit über die Zwangsläufigkeit des Verfalls hinweg. Sie überlebt ihre eigene Obduktion.

In der prallen Ausstellung „Die halluzinierte Welt – Malerei am Rand der Wirklichkeit“ beleben Mythen, Monster, Mutationen die Kunst. Deutlich sichtbar werden die Fantasien der Maler von B-Movies gespeist, von Sci-Fi-Horror-Splatterfilmen. Regisseure wie David Cronenberg, Lars van Trier oder David Lynch stehen Pate.

Marc Wellmann, der seit einem Jahr das Haus am Lützowplatz leitet, wollte als Spezialist für Bildhauerei eine Anti-Skulpturenausstellung organisieren. Elf Künstler und Künstlerinnen hat der Kurator ausgewählt, die aus Berlin, Leipzig, Hamburg und London kommen. Doch auch wenn sich die Fantasien der Maler über die Realität hinwegsetzen, geschieht das in sehr physischer Weise. Da tauchen die Maler in die atavistischen, triebhaften Abgründe der Menschen. Wilde Tiere treten als ungezähmte Statthalter auf.

Bei Emmanuel Bornstein bäumt sich ein Höllenhund mit glühenden Augen über der verwüsteten Landschaft auf. Bornstein knüpft an Goyas Apokalypse-Szenarien an. Als Sohn deutsch-polnischer Eltern verarbeitet er die Gräuel des 20. Jahrhunderts.

Mitunter erscheinen die Katastrophenvisionen erschreckend schön. Die Londoner Malerin GL Brierly gestaltet ein Killervirus in altmeisterlicher Feinheit. Jetzt hängt das kleinformatige Porträt des bedrohlichen Organismus wie ein Madonnenbild in der Nische. Ein geistiger Auswuchs mit zersetzender Wirkung.

Fast sieht es so aus, als wollten die Maler die existenziellen Ängste von Gewalt, Zerstörung, Tod mit ihrem Pinsel beherrschen. Sie greifen auf Mythen und Märchen zurück, in denen das Unterbewusstsein der Menschheit gespeichert ist. Heftig wehren sich diese Fantasien gegen die mathematisch zerlegte digitale Welt. Stattdessen trudelt die Malerei durch die irrationalen Regionen des Traums, des Rausches, der Vision. Dieses Bekenntnis zur Unvernunft mutet fast heldenhaft an.

Natürlich eröffnen sich mit Tilo Baumgärtel auch die romantischen Rückzugsräume der Neuen Leipziger Schule. Deutlicher aber siedelt Justine Otto, 1974 in Polen geboren, ihre rebellischen Szenen in der Grauzone zwischen individueller Wahrnehmung und gesellschaftlicher Propaganda an. Da entsteht die Halluzination aus der Unmöglichkeit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.

Nicht immer gelingt der heikle Balanceakt, kaum greifbare Fantasien in figurativer Malerei zu inszenieren. Mit ihrer Lust an Grusel und Grobheit verabreicht die Ausstellung mitunter eine Überdosis.

Faszinierend werden die ephemeren Zwischenwelten, wenn sie ihre ganze Ambivalenz entfalten. Am genauesten trifft Ruprecht von Kaufmann das körperliche Gefühl des Traums, Glück und Gefahr gleichzeitig erleben zu können. Weiße Sonne erhellt die Landschaft. Durch den Nebel segelt eine Gestalt fest an ihren Schirm geklammert. Der Betrachter fragt sich: Fliegt sie oder fällt sie?

Haus am Lützowplatz, Lützowplatz 9, bis 29. Juni; Di bis So 11–18 Uhr

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