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Porträt: Martin Pollack

Der Weltvermittler Pollack, Schriftstellers und Übersetzers, wird am Mittwoch mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt.

Ein Wort, das im Gespräch mit Martin Pollack häufig fällt, lautet Schatten. In dem Buch „Der Tote im Bunker“ über seinen Nazi-Vater, den er nie kennengelernt hat und der 1947 tot in einem Bunker an der österreichisch-italienischen Grenze gefunden wurde, komme seine Mutter kaum vor, sie sei: „eine Schattenfigur“.

Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Österreicher Martin Pollack mit Osteuropa, als langjähriger „Spiegel“-Korrespondent, als Übersetzer aus dem Polnischen unter anderem von Ryszard Kapudcinski, seit 1998 als freier Schriftsteller, weil er, wie er sagt, „die Region aus dem Schatten der Aufmerksamkeit“ holen will. Und in seinem Buch „Der Kaiser von Amerika“, für das er am Mittwoch bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird, beschreibt er die Massenflucht von Galizien nach Amerika um 1900, also, so Pollack, „die Schattenseite der Auswanderung.“ Wer so viel vom Schatten spricht, hat wohl mehr Berufung als Interessengebiet. Oder einen Auftrag gar? „Das klingt zu groß“, sagt er. „Aber natürlich, es geht um Versöhnung.“

Wir sprechen am Telefon. Er befindet sich auf seinem Bauernhof im Burgenland, genauer, in seinem Bibliotheksparadies, einem freistehenden modernen Bau, den er sich von einem befreundeten Architekten hat bauen lassen. Ein großer Raum mit einer Fensterfront zum Garten, durch die man manchmal Fasane sieht. Es gibt einen Schreibtisch und ein Ablagebrett, auf dem er Recherchematerial und Fotos auslegt. Die Regale beherbergen nicht nur tausende Bücher, sondern auch Handbibliotheken mit Material zu den eigenen Werken, die auch weiterwachsen, nachdem sie längst erschienen sind.

Literarische Sachbücher, nennt der Buchhandel Pollacks Bücher. Tatsächlich sind sie wahre Weltvermittlungsbücher, faktenreich einerseits, spannend, szenenreich und atmosphärisch dicht erzählt. Sie heißen „Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina“ (1984) oder „Warum wurden die Stanislaws erschossen?“ (2008), Reportagen aus Slowenien, Polen und Bulgarien. Oder „Anklage Vatermord“ (2002), das die rätselhaften Todesumstände des jüdischen Zahnarztes Murdoch Halsmann untersucht, die vor achtzig Jahren einen Skandal in Österreich auslösten. Für den Sammelband „Sarmatische Landschaften“ (2005) bat er Kollegen, von der Legende „zwischen der Ostsee und dem schwarzen Meer“ zu erzählen. Im Vorwort stehen Sätze, die sein großes Thema auf den Punkt bringen. Es gehe darum, „abschätzige Urteile gegenüber unseren östlichen Nachbarn zurechtzurücken und den Blick für diese Regionen zu schärfen.“

Klischees abbauen, Übersehenes beleuchten: Martin Pollacks Lebensprojekt des Zurechtrückens hat viel mit seiner Herkunft zu tun. Er kommt, 1944 in Oberösterreich geboren, nicht nur aus einer Familie, in der „eigentlich alle Nazis“ waren, sondern eben aus einer, die zu großen Teilen aus Markt Tüffer in der Untersteiermark stammt, vom südlichen Rand der Habsburger Monarchie, das heute als Laško zu Slowenien gehört.

In dem „Bericht über meinen Vater“ greift er, um sich dem Unbekannten und SS-Sturmbannführer zu nähern, weit in die Familiengeschichte zurück und beschreibt das Selbstverständnis, das um 1900 dort herrschte. Man sah sich als „deutsches Bollwerk“ und feierte etwa die Gründung einer deutschen Schule als „Etappensieg in der Abwehrschlacht gegen die andrängenden Slowenen.“ Natürlich verstand man Slowenisch, aber genauso selbstverständlich sprach man die verachtete Sprache nicht. Anti-Slawische Ressentiments gehörten selbst nach dem Krieg noch zur Familientradition.

Dagegen waren die eigenen Kindheitserfahrungen mit den „Fremden aus dem Osten“ positiv. Pollack besuchte in den fünfziger Jahren ein Internat, in dem auch Jungen aus Russland, Weißrussland oder der Ukraine waren. Mokotow, ein paar Jahre älter als er, „war ein guter Boxer“, schreibt Pollack in der Rede „Polnische Erinnerungen“, die er kürzlich in Danzig hielt. „Er versuchte, mir die Grundbegriffe dieses Sports beizubringen, das brachte mich ihm näher, ich bewunderte ihn.“ Die Familie misstraute seinem Interesse für den Osten. Als er 17-jährig nach Prag reiste, wollte ihn seine Großmutter davon abbringen. Erst „mit dem Hinweis auf unsere arme SS, die man in Prag an den Füßen aufgehängt hatte“, wie es im Vater-Buch heißt. Dann durch „behutsame Bestechung.“ Sie schlug eine „deutsche Städtereise“ vor. Sie würde auch zahlen. „Eigentlich“, sagt Pollack jetzt, „habe ich Slawistik und osteuropäische Geschichte aus Protest studiert.“

Dabei gilt Polen sein besonderes Augenmerk. Er studierte in Warschau, wohin er in den späten achtziger Jahren als Korrespondent zurückkehrte. Er übersetzte schon während des Studiums, vermittelt noch heute polnische Autoren an deutsche Verlage. Für sein erstes Buch begab er sich nach Galizien, und auch sein bisher letztes handelt von dem Gebiet, das heute halb zu Polen und halb zur Ukraine gehört. „Der Kaiser von Amerika“, im letzten Herbst erschienen, erzählt von der Flüchtlingswelle, die um 1900 Hunderttausende aus dem damaligen Armenhaus der Habsburger Monarchie in die Neue Welt aufbrechen ließ. Kleinbauern, Handwerker und Wanderhändler, die von Auswanderungsagenturen auf regelrechten Völkerwanderungsrouten durch halb Europa gelotst und an den Hafenstädten Hamburg und Bremen auf die Zwischendecks der Atlantikschiffe verfrachtet wurden. Die Armut der einen machte die anderen reich, eine ganze Industrie entstand. Schlepper, korrupte Staatsdiener, Transportunternehmen. Die Reederei Hapag stellte für die Menschenmassen den „bisher größten und modernsten Schnelldampfer in Dienst“. Dabei belässt es Pollack aber nicht. Über die Linien der Amerika-Karawanen zeichnet er auch die Ströme der Arbeitsemigranten nach, die von Polen ins Rheinland verlaufen, und skizziert zudem die Kupplerei der Mädchenhändler, die jüdische Mädchen aus Galizien in die Welt verkauften, nach Buenos Aires, Istanbul, Bombay. So entsteht ein weitverzweigtes Netz, das Muster der nackten Not, an dessen Knotenpunkten sich die Profiteure goldene Nase verdienten.

Das Unheimliche dieses beeindruckenden Buches besteht aber – Martin Pollack würde natürlich sagen – in dem Schatten, den es wirft. In dem Drama, das nie angesprochen, aber unablässig aufgerufen wird: die Flüchtlingsströme von heute und ihre schaurige Logistik. Wir wissen etwas von asiatischen und afrikanischen Routen, sehen hin und wieder Reporter, die am Zaun eines Auffanglagers stehen. Doch das meiste bleibt im Dunklen. Indirekt vermittelt „Der Kaiser von Amerika“ uns eine Ahnung vom schrecklichen Ausmaß dieser unsichtbaren Welt.

Martin Pollack: Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien. Zsolnay Verlag, Wien 2010. 284 S., 19,90 €

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