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Deutsch als Zuflucht. Melinda Nadj Abonji lebt in Zürich.

© A. Bella/dpa

Deutscher Buchpreis: Melinda Nadj Abonji: Fremd bin ich eingezogen

Leben zwischen den Kulturen: eine Begegnung mit Melinda Nadj Abonji, der Gewinnerin des Deutschen Buchpreises.

Anpassen. Sich eingliedern. Das sind die Schlagworte, die fallen, wenn es um Integration geht. Doch was passiert „mit Menschen, die sich assimilieren, bis sie selbst keine Identität mehr haben? Was mit ihren Kindern, die so aufwachsen und deren Kultur leer ist?“ Das sind die Fragen, die sich Melinda Nadj Abonji stellt. Und sie trägt diese Fragen in die Literatur.

In ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ (Jung und Jung Verlag, Salzburg, 314 Seiten, 22 €) erzählt sie von ihrer Familie, die aus Serbien in die Schweiz kommt und mit allen Mitteln versucht, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Es ist keine schöne Geschichte, weder für die Eltern noch für die Kinder. Melinda Nadj Abonji, in der Vojvodina geboren und in Zürich aufgewachsen, stand zwar auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, der am Montagabend im Frankfurter Römer vergeben wurde. Dass sie ihn aber gewinnen würde, damit hatte niemand wirklich gerechnet – auch wenn Identität und Entwurzelung in diesem Jahr Leitthemen der für den Buchpreis ausgewählten Titel waren. Jan Faktor, in Prag geboren und später nach Ostberlin übergesiedelt, verknüpft etwa das Leben im sozialistischen Prag mit dem Verlust der Kindheit. Doron Rabinovici wiederum, der als Dreijähriger von Tel Aviv nach Wien kam, rollt in „Andernorts“ eine komplizierte Familiengeschichte zwischen Israel und Österreich auf. Diese drei Finalisten waren nicht die Einzigen, die zwischen zwei Welten aufgewachsen sind.

Auf der Longlist standen noch Nino Haratischwili aus Georgien und Alina Bronsky aus Russland. Nicol Ljubic stammt aus Zagreb, die Lyrikerin Olga Martynova ist in Leningrad aufgewachsen – damit bildet nun auch der Deutsche Buchpreis eine Entwicklung ab, wie sie in der amerikanischen oder britischen Literatur längst stattgefunden hat. Die sogenannte zweite Generation bekommt eine Stimme.

Melinda Nadj Abonji, 42 Jahre alt, lebt im Kreis 4 in Zürich. Ein bunter Kiez, in dem an jeder Ecke eine andere Sprache gesprochen wird, das Nebeneinander ist hier Alltag. Ganz anders in dem Örtchen am Zürichsee, in das Nadj Abonji mit viereinhalb Jahren kam. Die serbische Familie war ein Exotikum und wurde dementsprechend behandelt. Dennoch schaffte sie den Aufstieg. Der Vater, erst Schwarzarbeiter in einer Metzgerei, brachte es zu einer eigenen Cafeteria. Einfach war das alles nicht. Nadj Abonji hat ihre frühe Kindheit als Phase des Stummseins in Erinnerung, es waren einfach zu viele Sprachen um sie herum. Zu Hause wird Ungarisch gesprochen, auf der Straße Schweizer Dialekt, in der Schule Hochdeutsch. Bei einer Schulaufführung von „Schneewittchen“ musste sie den Baum spielen, weil der keinen Text hatte. Das Deutsche wird ihr Zuflucht und Ausdrucksmittel, sie schreibt, arbeitet als Musikerin und Performerin, 2004 nimmt sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil.

„Meine Situation ist: Es gibt keinen Halt“, sagt Nadj Abonji. Serbien kennt sie nur aus dem Urlaub, mit der Schweiz wurde sie nie recht warm. In ihrem Roman erzählt sie, wie hoch der Preis für die allseits geforderte Assimilierung ist. „Tauben fliegen auf“ ist ein Protokoll multipler Zerrissenheit. Es geht um die serbische Familie Kocsis, die nirgendwo dazugehört. In Serbien waren sie Teil der ungarischen Minderheit, in der Schweiz sind sie Ausländer, die Kinder „Secondos“. Und wenn sie im Sommer nach Serbien fahren, gelten sie als reiche Westler mit Wohlstandsproblemen. Der Jugoslawien-Krieg zieht der Familie endgültig den Boden unter den Füßen weg. Verwandte verschwinden, Freunde werden eingezogen. In die alte Heimat können sie nicht zurück, in der neuen sind sie nicht willkommen. Wenn sie auf die Straße gehen, sehen sie politische Plakate, darauf gelbe und schwarze Hände, die gierig nach einem schweizerischen Pass greifen. Eine der vielen Hetzkampagnen gegen Einwanderer, die die Schweiz in den vergangenen Jahren erlebt hat.

Die Kocsis’ reagieren mit verbissener Anpassung. In der Cafeteria werden Schweizer Gerichte gekocht, als die Familie eine Servierkraft sucht, schreibt sie „Schweizerinnen bevorzugt“ in die Anzeige. Einmal lässt ein Gast seiner Ausländerfeindlichkeit freien Lauf und beschmiert die Toilette der Cafeteria von oben bis unten mit Kot. Die Mutter putzt alles wortlos weg. Nur die Tochter bringt die Dinge zur Sprache. „Man muss nicht alles schlucken als zweite Generation“, sagt Nadj Abonji. Immer wieder kommt in „Tauben fliegen auf“ die Ausländerfeindlichkeit der Schweiz aufs Tapet, namentlich die rechtsgerichtete Schweizerische Volkspartei. Doch die Eltern wischen auch das vom Tisch, „was kann denn das sein, fragt Vater mich in allem Ernst, das klingt für mich wie tiefster Kommunismus, Volk!, Partei!“.

Noch sind die Autoren der zweiten Generation auf bestimmte Themen festgelegt. Auf Integration, auf Identität. „Das ist ein Dauerpolitikum, da hat man als Secondo mehr dazu zu sagen“, sagt Nadj Abonji. Die Folgen der Assimilation werden sie weiterhin beschäftigen, selbst wenn sie inzwischen als Schweizer Autorin gilt. Das Interessanteste an dem Roman aber ist seine Sprache. Nadj Abonji flüchtet niemals in die Lakonik, jede noch so alltägliche Handlung wird begleitet von einer Fülle an Details, Beobachtungen, Nichtigkeiten. Besonders wenn es um die alltäglichen Demütigungen geht, scheint ein poetischer Bewusstseinsstrom die Figuren wegzureißen.

Es ist, als wollte Nadj Abonji der Sprachlosigkeit ihrer Figuren ein Übermaß an Sprache entgegensetzen. Allein der erste Satz von „Tauben fliegen auf“: „Als wir nun endlich mit unserem amerikanischen Wagen einfahren, einem tiefbraunen Chevrolet, schokoladefarben, könnte man sagen, brennt die Sonne unbarmherzig auf die Kleinstadt, hat die Sonne die Schatten der Häuser und Bäume beinahe restlos aufgefressen, zur Mittagszeit also fahren wir ein, recken unsere Hälse, um zu sehen, ob alles noch da ist, ob alles noch so ist wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor.“ Das ist nicht die Sprache von jemandem, der eine Anpassungsleistung vollbringt. Das ist die Wortgewalt von jemandem, der sich Sprache bemächtigt.

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