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Kultur: Metamorphose des Idealisten

Er war mal charismatischer Revolutionsführer. Nun will Daniel Ortega Präsident Nicaraguas werden. Dafür ist ihm jeder Pakt recht.

Es war ein triumphaler Einzug in Managua an diesem 19. Juli 1979. Diktator Anastasio Somoza war kurz zuvor Hals über Kopf mit seinem Clan geflohen. Die Menge jubelte jungen, zerzausten Männern zu, die sich auf der Plattform eines Panzers drängten und euphorisch Maschinengewehre und schwarz-rote Fahnen schwenkten. Die sandinistischen Rebellen hatten eine der blutigsten, diktatorischen Statthalterregime der USA gestürzt. Erinnerungen an Kuba wurden wach. Dort hatte 20 Jahre zuvor Revolutionär Fidel Castro die Batista-Diktatur hinweggefegt und vor der Haustüre der USA ein sozialistisches Regime errichtet.

Zur Gruppe der neun historischen Comandantes der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) gehörte auch Daniel Ortega, ein schmächtiger, aber wortstarker junger Mann aus der Mittelschicht mit Schnauzbart, damals gerade 33 Jahre alt. Er war nicht unbedingt der Klügste, nicht der Kühnste, nicht der Beliebteste. Doch er war von Anfang an mit dabei; seine traditionell oppositionelle Familie hatte lange unter Somoza gelitten, und vielleicht deshalb fühlte er sich besonders berufen. „Als Kinder konnten wir nicht einmal Baseball spielen, ohne dass uns Somozas Schergen verhafteten und ins Gefängnis warfen“, erinnert er sich. Vermutlich war er auch derjenige mit dem größten Machtwillen, was ihn schon bald zur zentralen Figur der Revolution werden ließ. Von 1985 bis zu seiner bitteren Abwahl 1990 war Ortega Präsident Nicaraguas. Seither ist er besessen von einer Rückkehr an die Macht, ordnet diesem Ziel alles unter. Und nun starrt ganz Nicaragua wie gebannt auf den kommenden Sonntag, denn im vierten Anlauf könnte dem Altrevolutionär der erneute Sprung auf den Präsidentensessel gelingen. Ganz legal und demokratisch – oder was man in Nicaragua eben darunter versteht.

Auf den ersten Blick wirkt das zweitärmste Land des Kontinents heute fast so zerrüttet wie zu Zeiten Somozas: heruntergekommene Krankenhäuser, in denen sich Ratten tummeln, Bettler und fliegende Händler auf den Straßen, hungernde Landarbeiter, Straßenkinder, die Klebstoff schnüffeln, streikende, unterbezahlte Lehrer und einstürzende Schulgebäude. „Wüsste ich nicht, dass es hier einmal eine sozialistische Revolution gegeben hat, käme ich nie auf diesen Gedanken“, sagt ein ausländischer Besucher bestürzt.

In der Tat ist wenig übrig geblieben von damals. Die Revolutionsirrtümer, eine immense Verschuldung und 16 Jahre neoliberale Sparpolitik haben ihre Spuren hinterlassen. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Mit einer Landreform, Verstaatlichungen, einer Alphabetisierungskampagne. Linke Solidaritätsbewegungen aus der ganzen Welt unterstützten das sandinistische Projekt mit Geld und Arbeitskraft. Nicaragua wurde zum Labor, in dem man versuchte, eine bessere Welt zu errichten – abseits des Kalten Krieges und außerhalb der kapitalistisch-imperialistischen Einflusssphäre der USA. Es gab rasch Erfolge: Innerhalb kürzester Zeit konnte die Analphabetenrate von 60 auf 15 Prozent gesenkt werden, erstmals waren Schulbesuch und Gesundheitsversorgung gratis.

Doch der Traum war von kurzer Dauer. Die chaotische Planwirtschaft sowie die von den USA militärisch nach Kräften unterstützte Contra-Revolution brachten die unerfahrene Revolutionsregierung ins Straucheln. Interne Streitigkeiten, eine Wirtschaftskrise und internationaler Druck zwangen Ortega schließlich dazu, demokratische Wahlen zuzulassen, die er 1990 überraschend verlor. Heute sind 80 Prozent der Nicaraguaner arm, über die Hälfte ist arbeitslos, die Analphabetenrate hat sich im Vergleich zum Sandinismus verdoppelt, das Pro-Kopf-Einkommen ist gesunken. Ortega schiebt die Verantwortung dafür gerne den rechten Regierungen der vergangenen 16 Jahre in die Schuhe. „Sie haben alles getan, um die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen“, schimpft der Ex-Guerillero. Als die FSLN 1990 abgetreten sei, sei Nicaragua auf Platz 60 des UN-Entwicklungsindexes gewesen, heute stünde das Land auf Platz 126 nur knapp vor Haiti. Damit bringt der heute 60-Jährige ein in Lateinamerika verbreitetes Problem auf den Punkt: Die Demokratisierung brachte zwar politische Stabilität und Frieden, doch der soziale Fortschritt blieb weitgehend aus. Und er greift geschickt den ewigen Traum der Armen vom Aufstieg in die Mittelklasse auf. Wie kein anderer symbolisiert er die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf anständige Krankenhäuser und Schulen, auf Arbeitsplätze und einen gesicherten Lebensunterhalt.

Dieser Diskurs hat wieder Rückenwind in Lateinamerika, seit Venezuelas Staatschef Hugo Chavez aus dem Erdölland ein neues, sozialistisches und solidarisches Vorbild für den Kontinent machen will und auf der Suche nach Verbündeten großzügig Petrodollars verteilt. Mit ähnlichen Versprechungen wie Chavez und Ortega gewann Evo Morales in Bolivien, hätte in Peru fast Ollanta Humala und in Mexiko fast Andres Manuel Lopez Obrador gewonnen. Auf dieser Klaviatur spielt der charismatische Ortega noch immer perfekt: Nach seinem Wahlsieg werde das von hohen Strompreisen und Stromausfällen geplagte Nicaragua billige Erdöllieferungen aus Venezuela und Ärzte und Lehrer aus Kuba bekommen, verspricht er etwa. „Er ist der Einzige, der sich um die Armen kümmert“, sagt eine barfüßige Alte bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Tränen in den Augen.

Das klingt wie in alten Zeiten oder zumindest fast. Denn weil viele in Nicaragua mit dem Namen Ortega Krieg und Mangelwirtschaft verbinden, gibt sich der Comandante heute einen weniger klassenkämpferischen Anstrich. Der charakteristische Schnurrbart ist geblieben, aber das Haar ist schütter geworden, der Bauch hat an Umfang zugenommen, das Schwarz-Rot der sandinistischen Revolution hat einem sozialdemokratisch angehauchten Rosa und die hochgereckte Faust und die Uniform einem legeren, offenen Hemd Platz gemacht. Statt mit dem Panzer fährt Ortega nun im Mercedes durch die Armenviertel Managuas, um für sich zu werben. Statt der sandinistischen Hymne erklingen Friedenslieder von John Lennon. Ein ganzes Dutzend Leibwächter schirmt ihn von der Menge ab, lässt nur gezieltes Händeschütteln und Babyküssen zu. Zu seinem Vize hat Ortega einen ehemaligen Contra-Paramilitär auserkoren. „Wir müssen die Vergangenheit überwinden“, predigt er heute. Doch noch sind die Wunden des Bürgerkriegs nicht verheilt, der 50 000 Menschen das Leben kostete. Auch deshalb, weil die Kriegsverbrechen nie juristisch aufgearbeitet und die Opfer nie wirklich entschädigt wurden.

Ortegas Wandel ist nicht nur optisch und rhetorisch. In den vergangenen Jahren ist aus dem marxistischen Idealisten ein Machtpolitiker geworden. „Ortega ist wie ein Pendel, das manchmal nach rechts und manchmal nach links ausschlägt“, sagt der Publizist Carlos Chamorro. Davon zeugt sein Wahlbündnis mit der Somoza-Partei. Oder die Anweisung an seine Abgeordneten, kurz vor der Wahl für eine drastische Verschärfung des Abtreibungsrechts zu stimmen – wo doch die Sandinisten einst für eine Liberalisierung desselben kämpften. Treibende Kraft hinter dem Projekt ist die in Nicaragua ultrakonservative katholische Kirche, die in vorigen Wahlen stets gegen die Sandinisten opponiert hatte und sich diesmal auffällig zurückhält. Davon zeugt auch der vor drei Jahren geschlossene Pakt mit dem wegen Veruntreuung von Staatsgeldern zu 20 Jahren Haft verurteilten, aber noch immer einflussreichen Ex-Präsidenten Arnoldo Aleman, mit dem sich Ortega skrupellos Pfründe aufteilte. Zusammen kontrollieren die beiden nun das Parlament, die Justiz, das Wahlgericht, den Rechnungshof und haben mit ihren Parlamentariern eine Verfassungsänderung durchgeboxt, wonach künftig in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl derjenige gewinnt, der mindestens 40 Prozent der Stimmen oder aber 35 Prozent plus fünf Prozent Vorsprung vor dem Nächstplatzierten hat. Das ist Ortegas einzige Chance auf eine Rückkehr an die Macht.

Denn trotz seiner Metamorphose zum Pragmatiker ist der Ex-Comandante für gut die Hälfte der Nicaraguaner ein rotes Tuch – was seine Chancen in einer Stichwahl oder unter strikteren Bedingungen erheblich schmälern würde. Längst gehört Ortega zur einst so diskreditierten Elite. Er residiert in einer eleganten Villa in Managua, die er sich nach seiner Abwahl noch schnell widerrechtlich unter den Nagel gerissen hat, und trinkt importierten Whisky mit seinem treuen Weggefährten Tomas Borge. Der ist neben Bruder Humberto Ortega einer der wenigen von damals, die Daniel noch die Stange halten. Einer der Ersten, die absprangen war Sergio Ramirez. In seinem Buch „Adios Muchachos“ rechnet der ehemalige sandinistische Vizepräsident mit seinen Compañero von damals ab. Ortega kommt dabei nicht gut weg. Er habe die sandinistische Partei in einen persönlichen Wahlverein verwandelt, sich selbst bereichert, mit der Oligarchie paktiert und die Institutionen unter seine Kontrolle gebracht. Er sei immer der starke Mann geblieben und mitverantwortlich für das Desaster in Nicaragua, kritisiert Ramirez. Ohne ihn wären die Sandinisten längst an die Macht zurückgekehrt. Zusammen mit anderen einflussreichen Ex-Sandinisten, darunter der Priester, Poet und Ex-Kultusminister Ernesto Cardenal, die Schriftstellerin Giacondo Belli und der FSLN-Gründer Victor Tirado, setzt er auf die sandinistische Erneuerungsbewegung. Die schickte diesmal Herty Lewites ins Rennen, einen ehemaligen Finanzier und Waffenschmuggler der FSLN jüdischer Herkunft und späteren Hauptstadtbürgermeister. Als der intelligente, spritzige und beim Volk wegen seiner effizienten Verwaltung beliebte Herty ernsthaft Präsidentschaftsambitionen anmeldete, ließ ihn Ortega voriges Jahr kurzerhand aus der Partei werfen. Doch selbst an der Spitze der dissidenten Sandinisten machte Lewites ihm das Leben schwer und mobilisierte mindestens genauso viele Menschen wie Ortega. Sein Herztod im Juni war ein schwerer Schlag für die Erneurer, die nun auf den Ökonomen Edmundo Jarquin setzen. An seiner Seite hat er den sandinistischen Bänkelsänger Carlos Mejia Godoy, einen weiteren Renegaten, der zwar noch immer in seiner Bar in Managua die alten Revolutionslieder anstimmt, aber an Ortega kein gutes Haar lässt. Er habe mit den finstersten Mächten Nicaraguas paktiert. „Für ihn zählt nur die Macht“, kritisiert der 63-Jährige. „Machiavelli“ hat Gioconda Belli den Altrevolutionär getauft. Mitverantwortung an der sozialen Katastrophe wirft die Ex-Guerillakommandeurin Monica Baltodano der FSLN-Führung vor. Ortega habe die Partei des progressiven Inhalts beraubt, mit „Säuberungen“ interne Kritiker beseitigt und sich in seinem mafiösen Pakt mit Aleman verpflichtet, die sozialen Kräfte zu demobilisieren. Damit sei der Widerstand gegen die Privatisierungen und gegen die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) gebrochen worden, schreibt die ehemalige Abgeordnete.

Gegen Ortega tritt diesmal auch Eden Pastora an, der legendäre „Comandante Cero“, der mit einer wagemutigen, aber genial geplanten Einnahme des Nationalpalastes und ohne einen Schuss abzugeben im August 1978 mehrere Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis freipressen konnte und Somoza demütigte. Doch der eigenwillige Pastora überwarf sich bald mit den Sandinisten, lief zur Contra über, kehrte schließlich ins zivile Leben zurück und wirft Ortega bis heute vor, die Revolution verraten zu haben.

Von den Missbrauchsvorwürfen, die Ortegas Stieftochter Zoilamerica vor einigen Jahren gegen den Comandante erhob, sprechen die einstigen Genossen nur ungern. Dieses Thema ist im machistischen Nicaragua noch immer tabu und wurde von der sandinistischen Justiz schnell unter den Teppich gekehrt. Dass trotz alledem ein Comback des gealterten Revolutionärs möglich ist, hat mit dem allgemeinen Trend zu linkspopulistischen Regierungen in Lateinamerika zu tun und mit dem Versagen der Lateinamerika-Politik Washingtons. Schon der Nicaragua-Krieg hätte US-Präsident Ronald Reagan wegen der Iran-Contra-Affäre – einem vom USGeheimdienst aufgebauten illegalen Waffen- und Drogenschmugglernetz zur Finanzierung der Contra – fast das Amt gekostet. Vor zehn Jahren setzten die USA dann auf Aleman, um Ortega auszubremsen. Der über 100 Kilogramm schwere Aleman brachte es rasant zu Reichtum. Parallel zu seinem Bauchumfang wuchs sein Bankkonto, auf Auslandsreisen verpulverte er locker 50 000 Dollar am Tag. Zwischen 100 und 200 Millionen Dollar soll er während seiner Amtszeit veruntreut haben – darunter auch ausländische Hilfsgelder. Das war dann auch den USA zu viel, also versuchte Washington, den unbequemen Verbündeten loszuwerden. Doch der ließ nicht von der Macht, was zu einer Spaltung der rechten Liberalen Partei führte.

Ein Flügel, der Aleman gehorcht, schickt am Sonntag Jose Rizo ins Rennen; der von den USA und dem amtierenden Präsidenten Enrique Bolanos unterstützte Reformflügel setzt auf den Bankier Eduardo Montealegre. Zwischen beiden teilen sich die 40–45 Prozent Stimmanteil der Liberalen nun auf. Nicht gerade geschickt stellte sich außerdem US-Botschafter Paul Trivelli an, mit seinem unverhohlenen Erpressungsversuch, die Entwicklungshilfe für Nicaragua einzustellen, sollte Ortega gewählt werden. Das verletzt nicht nur den Patriotismus der Nicaraguaner, sondern ist auch irrelevant, da mit Chavez bereits ein potenter Geldgeber und politischer Rivale als Ersatz bereitsteht. Denn wenn die Revolution eines hinterlassen hat, sind es stolze Bürger. „Davor waren wir Knechte, Dienstboten ohne eigene Rechte“, erinnert sich eine fliegende Händlerin, die auf den Straßen von Managua Obst verkauft. „Auch wenn es uns jetzt genauso schlecht geht wie zuvor, so sind wir wenigstens Menschen.“

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