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Das Migranten- und Ausgehviertel Bairro Alto in Lissabon feierte vor zwei Jahren seinen 500. Geburtstag. Serginho, der Held in Luiz Ruffatos neuem Buch trifft hier auf Fluchtgeschichten aus aller Welt.

© dpa

Migration in der Literatur: Mutlosigkeit und Hoffnung eines Einwanderers

Das Thema von Luiz Ruffatos „Ich war in Lissabon und dachte an dich“ ist heute von plötzlicher Dringlichkeit.

„Ich bin zwar arm, aber ehrlich“, schreit Serginho. Ein Mann hält ihm die Hand vor die Nase, „Heroin, Marihuana“, wiederholt er mit weiten Augen. Serginho lehnt ab; der Mann schubst ihn gegen ein Stahlgitter. Die Polizei möchte er rufen, denkt sich Serginho, kann aber nicht: Er hat keinen gültigen Pass. Eine Anzeige zu erstatten wäre für ihn gefährlicher als für den Drogendealer.

Serginho ist Migrant. Einer von hunderttausenden Brasilianern in Portugal, die in Lissabon, in Porto, in Braga ihr Glück versuchen, als Kellner oder Chauffeur, als Haushaltshilfe oder Maniküristin. Serginho ist außerdem Protagonist und Ich-Erzähler von Luiz Ruffatos aktuellem Buch „Ich war in Lissabon und dachte an dich“.

Luiz Ruffatos Hauptthema ist von ungeplanter Aktualität

Seit seinem São-Paulo-Großstadtroman „Es waren viele Pferde“, der 2012 auf Deutsch erschien, zählt Ruffato zu den bedeutendsten Schriftstellern Brasiliens. 2013, beim Gastlandauftritt Brasiliens auf der Frankfurter Buchmesse, hielt er die Eröffnungsrede und sprach darin von Grenzen, die für Waren durchlässig sind, aber nicht für Menschen wie Serginho.

Ruffatos Zentralthema ist von plötzlicher Dringlichkeit: Er schreibt über migrantische Milieus. Über die Wanderarbeiter innerhalb seiner Heimat, das brasilianische Landproletariat, über das Elend der Landlosen in den Städten, in denen sie keiner braucht. In seinem neuen Buch hat Ruffato nun Europa entdeckt, das kosmopolitische Lissabon, seit dem 16. Jahrhundert Metropole und Sehnsuchtsort.

Luiz Ruffato: „Ich war in Lissabon und dachte an dich“. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag Assoziation A, Berlin 2015, 96 Seiten, 14 Euro
Luiz Ruffato: „Ich war in Lissabon und dachte an dich“. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag Assoziation A, Berlin 2015, 96 Seiten, 14 Euro

© Cover: Assoziation A

Er behandelt damit das Thema, das die Debatten und die Politik in Europa bestimmt: Flucht und Migration, sei es als Suche nach Schutz vor dem Krieg, sei es, um der Armut und der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Luiz Ruffato nimmt dabei gleich zwei Perspektiven ein: Zum einen schreibt er über und aus der Armut heraus, wuchs er doch selbst als Sohn eines Popcornverkäufers und einer Wäscherin auf. Sicheren Schritts geht er durch diese klischeeanfällige Welt, fernab jeder Sozialromantik oder Moralisierung.

Zum anderen bietet der Blick von weit außen (Brasilien) nach weniger weit außen (Portugal) Erkenntnisse, die für verhärtete Migrationsdiskurse in Deutschland wertvoll sein können.

Ruffato und sein Protagonist sind aus der selben Stadt im brasilianischen Hinterland

Dass beides so gelingt, liegt auch am klugen Konstrukt von „Ich war in Lissabon und dachte an dich“. Serginho heißt mit vollem Namen Sérgio de Souza Sampaio und hat Ruffato in Lissabon seine Lebensgeschichte „in vier Sitzungen an sonnigen Samstagnachmittagen“ erzählt. Die Aufzeichnung hat etwas von einer Plauderei, ist aber nie geschwätzig. Und auch etwas von einem Interview, das nur aus einer einzigen Frage bestand: Wie kamen Sie dahin, wo Sie heute sind? „Nur leicht“ habe Ruffato das alles dann bearbeitet, letztendlich zu einer modernen Novelle.

Serginho erzählt von seinem Abschied aus der Kleinstadt Cataguases (wo auch Ruffato geboren ist). Wie er erst aus Überschwang, dann aus Peinlichkeitsvermeidung den Plan schmiedet, nach Portugal auszuwandern, ohne zu wissen, was überhaupt ein Reisepass ist. Wie er einen Portugiesen trifft, der ihm das Auswandern erklärt und ihm erzählt, nach ein, zwei Jahren in Portugal könne er reich und stolz zurückkehren.

Versprechen, die sich lesen, wie jene, die heute auf Facebook kursieren. Über vermeintliche Schlaraffenländer wie Deutschland, Österreich oder Schweden. Einmal angekommen, wartet oft die Enttäuschung. Ob für Flüchtlinge, die in unwürdigen Massenlagern darben. Oder für Ärzte, Ingenieure und Techniker, aus allen Ecken der Welt, die ihre Ausbildungen nicht anerkannt bekommen und hoffnungslos überqualifiziert in Callcentern oder als Taxifahrer arbeiten. Oder für EU-Bürger, deren heimatliche Krisen von deutschen Arbeitgebern finanziell schamlos ausgenutzt werden, wie es bei vielen unterbezahlten Spaniern, Rumänen, Griechen oder eben Portugiesen in deutschen Großstädten der Fall ist.

In Exilgemeinschaften finden sich Anknüpfungspunkte

Serginho macht in Lissabon all diese Erfahrungen. Seine Fertigkeiten werden nicht gebraucht. Er wird angelogen, über den Tisch gezogen, fehlgeleitet. Aber er findet auch Unterstützung, von anderen Migranten, allen voran von Landsleuten. Mindestens ein freundliches Gesicht, oft auch handfeste Hilfe.

Als „Hub-and-Spoke“, Naben-und-Speichen-Struktur bezeichnet das die Soziologin Vilna Bashi Treitler von der New York City University. Neu angekommene Migranten suchen sich eine Nabe ihrer Exilgemeinschaft. Diese vermittelt erste Anknüpfpunkte, einen Job, ein Zimmer. Schon bald geraten die Neuankömmlinge in ein Beziehungsgeflecht, das Netz innerhalb der Community wird größer. Dadurch entstehe, so Treitler, innerhalb der Communities eine Unterstützungskultur, eine soziale Sicherungsarchitektur. Solcherart funktionieren etwa städtische Ethno-Enklaven wie Little Italy, Chinatown, Little Germany.

Oder die angolanischen, mosambikanischen oder brasilianischen Communities in Lissabon, in die Serginho nach und nach reinstolpert. So bekommt er einen ersten Job als Hilfskellner in einem Restaurant im Ausgehviertel Bairro Alto. Und eine Unterkunft in einem heruntergekommenen Hotel.

Ruffato erzählt von einem ablehnenden Lissabon

Hier hört Serginho verschiedenste Fluchtgeschichten. Ein alter Portugiese erzählt ihm, wie er sein Leben in Brasilien verbrachte, unglücklich nach Portugal zurückkehrte und nichts mehr vorfand, was ihn mit seiner Heimat verband. Oder er begegnet einem angolanischen Unabhängigkeitskämpfer, der vor zwanzig Jahren durch eine Tretmine sein Bein verlor. Im Exil muss der Angolaner die Kinder der Bürgerkriegssieger ertragen, die von ihren Eltern in den teuren Vierteln auf die besten Schulen geschickt werden. Er aber, der Kriegsversehrte, verbietet mangels besserer Möglichkeiten den eigenen Kindern, seine Muttersprache Umbundu zu sprechen, damit sie ihr Portugiesisch verbessern.

Serginho trifft auf ein ablehnendes, auf ein schmutziges Lissabon. Er wird vom unbedeutenden Arbeiter im brasilianischen Hinterland zum ungewollten Tagelöhner in der Stadt.

Die Mutlosigkeit des Einwanderers

Er ist das, was heute viele Menschen mit erhobenem Zeigefinger einen „Wirtschaftsflüchtling“ nennen, einen „Armutszuwanderer“. Serginho ist aber weder Flüchtling noch Zuwanderer. Serginho will nicht in Portugal sein, sondern bei seiner Familie. Doch die Umstände zwingen ihn irgendwann zu der traurigen Erkenntnis, nach fünf Jahren keinen müden Euro zusammengespart zu haben.

„Ich war in Lissabon und dachte an dich" zeigt, wie schwer es ist, an einem Ort anzukommen, wo einen keiner will, wo man selbst nicht sein will. An dem man nur gewesen sein will, um zurückzukehren.

„Wir alle spürten die Mutlosigkeit des Einwanderers, wenn man weiß, dass dieses Leben nichts taugt, wenn man nicht einmal hoffen darf, dort begraben zu werben, wo man geboren ist“, sagt Serginho. Dass Luiz Ruffato den Bericht von Sérgio de Souza Sampaio 2005 in Lissabon aufgezeichnet hat, verrät viel über den Ausgang der Geschichte, über Hoffnung und Realität. Seine vielen kleinen anekdotischen Wahrheiten und Erfahrungen machen Serginho zu einem liebevollen Archetypen, den es zwar schon immer gab – der aber gerade im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zunehmend zum Basisinventar der Weltliteratur gehören wird.

- Luiz Ruffato: „Ich war in Lissabon und dachte an dich“. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag Assoziation A, Berlin 2015, 96 Seiten, 14 Euro

- Lesung Luiz Ruffato, Fr., 29. Januar., ab 19 Uhr im Iberoamerikanisches Institut, Potsdamer Straße 37. Danach Gespräch mit dem Autor. Eintritt frei

- „Brasilianische Einsichten“ - Ein Gespräch mit Luiz Ruffato, Mo.,, 1. Februar., 18:30 Uhr, Heinrich Böll Stiftung, Schumannstraße 8. Eintritt frei.

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