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NIcht nur abstrafen. Ein 17-Jähriger im Jugendheim Gerswalde bei Prenzlau.

© picture-alliance / ZB

Politische Literatur: Opfer, die sich Opfer suchen

Vor gut einem Monat nahm sich die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig das Leben. Kurz darauf erschien ihr Buch "Das Ende der Geduld".

Von Caroline Fetscher

Leitmotivisch machte Kirsten Heisig „Das Ende der Geduld“ zum Titel ihres Buches. Mit wem oder was aber hatte die Geduld der Berliner Jugendrichterin ein Ende? Weitaus weniger mit den Kindern als vor allem mit Eltern, Ämtern und Politikern, die ihrer Verantwortung für Heranwachsende mangelhaft bis gar nicht nachkommen. Das Vermächtnis der Frau, die sich Anfang Juni, kurz vor dem Erscheinen ihres Buches 48-jährig das Leben nahm, ist ein dezidierter Ruf nach Handeln, realistisch und jenseits jeder Ideologie. „Zunehmend müssen die Kinder vor ihren allgemeinen Lebensbedingungen innerhalb der Familien geschützt werden“, lautet eine Erkenntnis der Richterin. Primäre Verursacher der Jugendkriminalität sind mithin die Milieus, in denen die jungen Täter aufwachsen, arme oder reiche Milieus, deutsche, türkische oder arabische. Wer eine Tirade über verrohte Immigranten erwartet, garniert mit saftigen Fallschilderungen und geeignet zum Empörungsgenuss auf dem Sofa, der tut dem Engagement dieser Autorin grob unrecht. Heisig erkannte, wo und wie im jeweiligen Umfeld jugendlicher Straftäter gewalttätiges, unethisches Verhalten normativen Charakter besitzt. Rechtsstaatliche Normen, demokratische Haltung und Gewaltverbot gelten in solchen Familien wenig, und, schreibt Heisig, müssen endlich durchgesetzt werden.

Da ist der kriminelle Junge Chris. „Beide Eltern waren Alkoholiker, die sich nicht darauf beschränkten, Chris zu verprügeln, sondern ihn zusätzlich an Heizkörper und an sein Bett fesselten.“ Oder Ingo, der nach der Trennung der Eltern erst beim Vater, dann bei der Mutter lebt: „Schrecklich ist beides. Die Mutter trinkt, der Vater schlägt.“ Da wundert sich eine deutsche Alleinerziehende mit vier Töchtern, dass der Schulbesuch ihrer Jüngsten eingefordert wird. Bei den anderen drei habe doch auch kein Hahn danach gekräht. Über einen jungen, türkischen Kokainhändler erfuhr Heisig: Die Eltern hatten ihn als Kind mit glühenden Nadeln traktiert, seinen Kopf auf eine scharfe Kante gestoßen, als er einen Gegenstand verschluckt hatte. Einmal rief eine Sportlehrerin das Jugendamt an. „Der Junge kam für einen Monat in ein Heim. Er verbrachte dort die einzige Zeit seiner Kindheit, in der er nicht verprügelt wurde. Dann gelobten die Eltern Besserung, bekamen das Kind zurück, und alles ging von vorn los.“ Lakonisch hält Heisig fest, in derlei Elternhäusern sei „die Beschäftigung mit den Kindern im Sinne von gemeinsamer sinnvoller Freizeitgestaltung oft unüblich“. Ähnlich gelagert sind die Fälle in Familien libanesischer oder türkischer Herkunft. „Ein Sohn einer Großfamilie zertrümmert … seiner Lehrerin das Gesicht, ein anderer schlägt mit elf Jahren auf einem Volksfest eine behinderte junge Frau krankenhausreif.“ Die Eltern bleiben unbeeindruckt: „Sie haben ihren Kindern diese Verhaltensweisen ja auch meist vorgelebt.“ Laut Artikel 6 des Grundgesetzes hat der Staat ein Wächteramt für Minderjährige. Er habe daher, schreibt die Richterin, die Kinder „notfalls vor ihren Lebensbedingungen zu schützen“. Heisigs Plädoyer geht also weit über das rasche Abstrafen junger Täter hinaus, das sich einen Monat vor ihrem Tod als „Neuköllner Modell“ für ganz Berlin durchgesetzt hat.

Erstaunlich und leider symptomatisch ist, dass aus Heisigs Buch bisher vor allem die Passagen über das schillernde Milieu der kriminellen, arabischen Großfamilien zitiert werden. Dabei ist das Vermächtnis dieser Richterin ein Pamphlet für den Schutz der instabilen kindlichen Persönlichkeiten. Fast allesamt haben die Kinder, die vor dem Kadi landen, eines gemeinsam: Ob Chris, Leon, Sven, Maik, Kevin, Kimberley, Yilmaz, Hussein oder Kaan – sie waren zunächst Opfer ihres brutalisierten privaten Umfeldes und machen dann sich und andere zu ihren Opfern. Schutz versagenden, egozentrischen Erwachsenen macht dieses Buch den Prozess, all denen, die nicht aufs Kind gucken, sondern auf sich. Nicht auf das Kind, sondern auf ihre Bequemlichkeit. Nicht auf das Kind, sondern auf ihre Posten und Positionen, nicht auf das Kind, sondern auf ihre „Ehre“ oder ihr Konto.

Den Katalog von Heisigs Forderungen diktierte ihr die Praxis. Sie fordert das konsequente Durchsetzen der Schulpflicht, eine häufigere und therapeutisch durchdachte, gut kontrollierte Inobhutnahme gefährdeter Kinder, Ganztagskindergärten, „Eltern-Coaching“ und medizinische Vorsorgeuntersuchungen, um „endlich der Misshandlung vieler Kinder auf die Spur zu kommen“. Verweigernden Eltern drohte die „Richterin Gnadenlos“, wie die Presse sie gelegentlich nannte, mit Bußgeld und Haft. Man müsse geltendes Recht auch anwenden, „sonst kommt der Staat als zahnloser Tiger daher“. Da Kinder aus Migrantenfamilien auffällig öfter der Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt sind, während auffällig seltener in diesen Familien interveniert wird, fragt Heisig: „Wo bleiben dann die Verfahren wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen oder wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen?“

Mit Gnadenlosigkeit hatte die Haltung der Juristin rein gar nichts zu tun. Sondern mit Engagement. Heisig hatte sich vom Gerichtsgebäude aus auf den Weg in die Praxis gemacht, zu Familien, Seminaren mit Eltern, Stadtteilprojekten, und das nicht nur in ihrem Neuköllner Kiez. Bei Besuchen in Rotterdam, Glasgow, London und Oslo erfuhr sie, dass dort längst Usus ist, was sie sich für Deutschland wünschte: die Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendhilfe und Polizei. „Kinderschutz geht vor Datenschutz“ lautet eines von Heisigs Credos. In Oslo, das gerade mal sechs Haftplätze für Jugendliche braucht, setzt man früh an, wie Heisig erfuhr. Dort besuchen zum Beispiel zweisprachige Sozialarbeiter die Eltern und animieren sie zur Anmeldung ihrer Kleinkinder im Kindergarten, sie zeigen Fotos der Einrichtung und klären über deren Vorzüge auf.

Statistiken zur rückläufigen Jugendkriminalität traute die Richterin nicht, sie widersprachen ihrer Erfahrung. Diebstahl, Mobbing, sexuelle Gewalt, Dealen und Konsumieren von Speed, Ecstasy, Tilidin, Cannabis, Heroin, der Konsum brutalisierter und pornografischer Videos und Körperverletzung aller Art gehören, davon sprachen Heisigs Akten, mehr und mehr zur Subkultur zahlloser Minderjähriger – durchaus auch solcher mit gut situiertem, deutschem Hintergrund und dem Merkmal „Wohlstandsverwahrlosung“. Dazu kommen radikaler werdende rechte wie linke Szenen, in denen Straftaten oft als Mutproben gelten.

Sicher, Heisigs Werdegang führte sie in die düsteren Felder, von der einst rechten Hochburg Berlin-Pankow über Berlin- Friedrichshain, in den 90er Jahren Eldorado der Autoknacker, bis ins heutige, von Migranten geprägte Berlin-Neukölln. Ihre Warnung vor einem Zerfall der Gesellschaft mag übertrieben klingen. Aber zumindest die zahllosen, zuvor oft unbekannten Fälle von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung, die seit Februar 2010 in die Schlagzeilen kamen, sollten hellhörig machen, und nicht zuletzt die zunehmende sexuelle Gewalt von Kindern gegen Kinder, wie die unlängst auf einer Nordseeinsel publik gewordenen Taten.

Jede kriminelle und sexuelle Grenzverletzung durch Minderjährige hat einen Doppelcharakter. Die Tat ist zugleich Delikt und Symptom. Symptom für pädagogisch falschen, kalten bis kriminellen Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Wo der Rechtsstaat Unrecht an Minderjährigen zulässt, hat er sich zu einem Teil selber abgeschafft. Das ist der Skandal, von dem die Richterin spricht.
– Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Herder Verlag, Freiburg 2010. 208 Seiten, 14,95 Euro.

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