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Sibirische Einsiedler: Allein in der Taiga

Sie kam im Wald zur Welt, als jüngstes von vier Geschwistern. Ihre Familie versteckte sich aus Angst vor den Bolschewiken mehr als 40 Jahre lang in der sibirischen Wildnis. Heute ist Agafja Lykowa die einzige Überlebende. Die Geschichte einer beispiellosen Flucht

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Jens Mühlings soeben erschienenem Buch "Mein russisches Abenteuer" (DuMont Buchverlag, 352 Seiten).

Als sie zu reden begann, klang es wie Gesang – ein leises, unfertiges, für keinen Zuhörer gesungenes Lied. Es war dunkel geworden in der Hütte, nur noch der Mond warf ein blaues Lichttrapez auf den Boden, selbst Agafja verschwand halb in der Nacht, erkennbar blieb nur die linke, dem Fenster zugewandte Seite ihres Gesichts. Die Schlafpritsche, auf der sie saß, war überhäuft mit durcheinandergewürfeltem Hausrat, den ich im Dunkeln nur erahnen konnte: Stoffreste, Körbe aus Birkenrinde, Bücher, eine Blechwanne, der Lauf eines Gewehrs. Ich fragte mich, wo Agafja schlief. Ich fragte mich, ob sie überhaupt schlief.

In einem Verschlag neben dem Ofen lebten zwei Ziegen, ihr Gestank zog die Insekten an. Es war Ende August, die Jahreszeit der „Moschki“, jener winzigen sibirischen Fliegen, vor deren Bissen man mich gewarnt hatte. Sie zerfraßen mir die Hände, während ich versuchte, Agafjas gesungene Sätze nachtblind in meinen Notizblock zu übersetzen. Das einzige, was ich am nächsten Morgen noch deutlich entziffern konnte, war die Zahl 7453, Agafjas Geburtsjahr.

„Die Auferstehung fiel auf den 6. Mai in jenem Jahr, aber nach eurem Kalender war es der 23. April, und das Jahr nennt ihr 1945, doch seit der Erschaffung der Welt waren 7453 Jahre vergangen.“

Lange hatte ich auf diese Begegnung gewartet. Es war gut zwei Jahre her, dass ich in einer russischen Zeitung zum ersten Mal auf die seltsame Geschichte der sibirischen Einsiedlerfamilie gestoßen war, die sich vier Jahrzehnte lang in der Taiga versteckt hatte, bevor man sie zufällig entdeckte. Sie waren „Altgläubige“, Angehörige einer totgesagten Glaubensgemeinschaft, die sich im 17. Jahrhundert von der orthodoxen Kirche losgesagt hatte, aus Gründen, die heute lächerlich klängen, wären die Folgen damals nicht so blutig gewesen: Halb Russland hatte sich über der Frage zerstritten, ob das Kreuzzeichen mit zwei oder mit drei Fingern zu schlagen ist. Agafja, die es mit zwei Fingern schlug, war die jüngste Tochter der gestrandeten Altgläubigenfamilie. Und die einzige, die noch lebte.

Sie sprach lange in jener ersten Nacht, und auch an den folgenden Tagen riss ihr Singsang selten ab. Als ich am fünften Tag wieder aufbrach, konnte ich mir Agafja nicht mehr schweigend vorstellen. Bis heute frage ich mich, ob sie verstummt, wenn kein Mensch in ihrer Nähe ist, oder ob sie weitersingt, für die Birken, für die Bären, für sich selbst.

Ihre Welt ist klein. Die östliche Grenze ist das Flussufer. Im Westen liegt der Kartoffelacker, der in steilen Terrassen einen Berghang erklimmt, eingeschlossen von dichter Taiga, Kiefern und Birken, ein grüner Ozean, der rundum bis zum Horizont reicht. Nur nach Norden entfernt sich Agafja etwas weiter von ihrer Hütte, am Flussufer entlang bis zur Fischreuse. Dahinter stehen ein paar Weiden, von denen sie jeden Morgen ein paar Zweige abschneidet, für die Ziegen. Weiter als bis zu den Weiden geht sie selten. Alles in allem ist ihre Welt kaum einen Quadratkilometer groß.

Sie wirkte älter und gleichzeitig jünger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ihr Gesicht war wettergegerbt und altersgefurcht, aber Agafja lächelte wie ein Kind. Sie war keine anderthalb Meter groß. Ein bodenlanges, aus groben Wollstoffen genähtes Kleid verschleierte ihre Figur, aber sie war erkennbar nicht sehr kräftig, ihre Schultern mussten schmaler sein als die Baumstämme, aus denen ihre Fischreuse zusammengesetzt war. Wie diese winzige Frau das Holz in den Fluss gewuchtet hatte, war schwer vorstellbar.

Fünf Tage lang leerten wir morgens zusammen die Fischreuse, schnitten Weidenzweige, fütterten die Ziegen. Wir rupften das Unkraut aus dem abgeernteten Kartoffelacker, stapelten Brennholz, besserten das Dach der Hütte aus, flickten die Löcher in der Fischreuse. Nur zum Beten und zum Essen zog sich Agafja zurück. Wenn sie nicht aß oder betete, sprach sie.

Ich brauchte eine Weile, um mich einzuhören, um den Sinn der veralteten Wörter zu erraten, die niemand außer Agafja mehr verwendete, um dem scheinbar ziellosen Treiben ihrer Sätze zu folgen, die oft übergangslos vom Biografischen ins Biblische wechselten, als gäbe es zwischen beiden Bereichen keine klar gezogene Grenze. Nach und nach aber fügten sich die Fragmente ihrer Lebensgeschichte, die ich zwischen Flussufer und Waldrand, Kartoffelacker und Fischreuse zu hören bekam, zu einem Gesamtbild.

Ihr Vater, ein Mann namens Karp Lykow, war ein gutes Jahrzehnt vor der Revolution zur Welt gekommen, als Kind einer sibirischen Altgläubigenfamilie. Die Großeltern, die Agafja nie kennenlernte, lebten mit neun Kindern am Ufer des Abakan, etwa 100 Kilometer stromabwärts von Agafjas heutigem Wohnort. Das Dorf bestand aus einem Dutzend Höfen, bewohnt von kinderreichen Altgläubigenfamilien wie den Lykows, die zur Außenwelt wenig Kontakt hatten.

Der Bart des jungen Karp Lykow war noch nicht sehr lang, als in den frühen 30er Jahren ein revolutionäres Planungskommando in der Siedlung auftauchte. Die Männer kamen als Missionare, bloß schlugen sie das Kreuzzeichen nicht mit zwei und nicht mit drei Fingern – sie bekreuzigten sich überhaupt nicht. Stattdessen predigten die Bolschewiken Wahrheiten, die ihnen ein deutscher Philosoph eingeflüstert hatte: Religion ist Rauschgift – es gibt keinen Gott! Sie sahen sich sehr genau in der Siedlung um. Am Ende zeigten sie auf die Fischreusen der Altgläubigen: Sehr gut, riefen sie, der Staat braucht Fische! Ab sofort ist eure Siedlung eine Fischerei-Genossenschaft!

Die Altgläubigen hielten das für keine gute Idee. Über Nacht gaben sie ihr Dorf auf. Ein Teil von ihnen flüchtete ins Altai-Gebirge, der andere Teil, darunter der frisch verheiratete Karp Lykow, zog stromaufwärts den Abakan entlang, tiefer hinein in die Taiga, wie es die Altgläubigen immer getan hatten, wenn ihre abgeschiedenen Siedlungen im Lauf der Jahrhunderte unter Druck geraten waren.

Sie hatten sich kaum neue Häuser gebaut, als erneut Uniformierte auftauchten. Diesmal redeten die Bolschewiken nicht mehr von Genossenschaften, stattdessen zeigten sie kurzerhand auf die Fischernetze der Altgläubigen: Her damit! Der Staat braucht Netze!

Die Altgläubigen schüttelten stumm die Köpfe. Ein Schuss fiel. Karp Lykows Bruder Jewdokim brach zusammen, die Kugel hatte ihn in den Bauch getroffen. Er verblutete, während die Bolschewiken die verstaatlichten Fischernetze einpackten. Bevor sie verschwanden, riefen sie den Altgläubigen zu: Der Staat braucht eure Kinder! Gebt sie in die Schule, sonst holen wir sie uns!

Danach trennten sich die Altgläubigen ein zweites Mal. Die Jüngeren flohen mit ihren Kindern ins Altai-Gebirge, nur ein paar alte Leute, darunter Karp Lykows Eltern, blieben, wo sie waren. Karp Lykow selbst, der zwei kleine Kinder hatte, tat weder das eine noch das andere. Er wusste von der „gottlosen Wissenschaft“, die in den Schulen der Bolschewiken gelehrt wurde. Er kannte die Altgläubigensiedlungen des Altai-Gebirges, und er glaubte nicht, dass seine Kinder dort sicherer sein würden. Also zog er mit seiner Frau und den Kindern in die entgegengesetzte Richtung: stromaufwärts den Abakan entlang, noch tiefer in die Taiga.

Als sich die Familie trennte, betete Karp Lykows Mutter zu Gott: Einen Sohn hast du mir genommen, nun nimm auch meine anderen Kinder zu dir, lass sie nicht leiden auf dieser Welt.

In den Jahren, bevor der Weltkrieg ausbrach, nahm Gott Jewdokim und Stepan, Anastasija und Alexandra, Feoktista und Fionija, Anna und Darja. Nur Karp nahm Gott nicht zu sich. Karp, der die Welt hinter sich gelassen hatte, überlebte.

Seine Frau Akulina brachte in der Taiga ein drittes, schließlich ein viertes Kind zur Welt. Agafja, die jüngste Tochter, wurde am Ufer des Jerinat geboren, einem Nebenfluss des Abakan, an der gleichen Stelle, an der sie auch heute lebt.

Kurz nach ihrer Geburt liefen die Lykows, die seit Jahren keinem Menschen mehr begegnet waren, am Flussufer zwei verirrten Soldaten über den Weg. Die Männer erzählten vom Krieg gegen die Deutschen, der noch nicht ganz vorbei war. Beiläufig erkundigten sie sich nach Karp Lykows Alter. Er begriff, dass man ihn für einen Deserteur hielt.

Noch in derselben Nacht begannen die Lykows mit dem Bau einer neuen Hütte, wieder ein Stück tiefer in der Taiga. Aus Angst, vom Fluss aus entdeckt zu werden, rodeten sie diesmal eine Ackerfläche mitten im Wald, neun Kilometer vom Ufer entfernt. Sie stellten das Fischen ein und mieden den Fluss. Jahrzehntelang begegneten sie keinem Menschen mehr.

Es war die härteste Zeit ihres Einsiedlerlebens. Der Acker, den sie im Wald gerodet hatten, war so hoch gelegen, dass kein Getreide auf ihm wuchs. Auch Erbsen gediehen nicht mehr, nur noch Kartoffeln und Zwiebeln und Möhren. Ansonsten aßen die Lykows, was der Wald hergab: Pilze, Beeren, Wurzeln, Kräuter, Farnblätter, Birkensaft. Sie hoben Tierfallen aus, in denen sich manchmal ein Wildschwein verfing, ein Maral, ein Auerhahn. Das Fleisch trockneten sie in der Sonne, für den Winter. Aus Kartoffeln und zerriebenen Zirbelkernen backten sie Brot, ihre Kleidung nähten sie aus Hanf und Flachs, ihre Schuhe aus Birkenrinde und Tierfellen.

Agafja war 15 Jahre alt, als die Lykows eines Wintermorgens aufwachten und auf dem Boden ihrer eingeschneiten Hütte eine Spur aus angefressenen Körnern entdeckten. Die Spur endete vor einem Spalt in der Außenwand. Ein Nagetier war eingedrungen, über Nacht hatte es den Saatgutvorrat aufgefressen. Im Sommer säten die Lykows aus, was übrig geblieben war. Im Herbst brachten sie eine spärliche Ernte ein. Im Winter verhungerte Agafjas Mutter.

Auf dem Sterbebett bat Akulina ihren Mann, sechs Gräber auszuheben, für jeden eins, sie sagte: Wenn das Ende kommt, legt euch in die Gräber, sterbt als Christen. Als sie tot war, begann Karp zu graben. Der Boden war so hart gefroren, dass er es bei einem Grab beließ.

Still vergingen die Jahre. Zu fünft lebten die Lykows weiter, sie arbeiteten und beteten, sie beteten und arbeiteten. Manchmal sahen sie Flugzeuge am Himmel, ohne zu wissen, dass es Flugzeuge waren. Nachts fielen ihnen Sterne auf, die nicht ruhig auf der Stelle standen wie alle anderen, sondern leuchtende Bahnen zogen – es waren die ersten Satelliten, aber auch das erfuhren die Lykows erst später.

Abgesehen von solchen Himmelserscheinungen blieb ihnen die Welt jenseits der Taiga fern. Die beiden älteren Geschwister erinnerten sich nur schwach an Kindheitsbegegnungen mit anderen Menschen, die beiden jüngeren, Dmitrij und Agafja, hatten nie etwas anderes gesehen als ihr kleines Stück Wald. Der Vater erzählte ihnen oft von der gottlosen Welt, die er hinter sich gelassen hatte, aber auch er wusste nicht, was aus dieser Welt geworden war.

„Wir wussten nicht, ob von den Verwandten noch jemand lebte“, sagt Agafja. „Wir wussten nicht, ob die Verfolgungen aufgehört hatten, ob es außer uns noch Christen gab auf der Welt.“

Ihre Gebete sprachen die Lykows gemeinsam, die Arbeit teilten sie auf. Sawwin, der älteste Sohn, war für das Brennholz zuständig, für das Gerben der Tierfelle, das Nähen der Schuhe. Dmitrij, der jüngere, kümmerte sich um die Fischerei, später um die Jagd. Natalja, die ältere Schwester, kochte und nähte. Agafja bearbeitete den Gemüsegarten.

Auch die Zeitrechnung gehörte zu Agafjas Aufgaben. Die Jahre, Monate und Tage verstrichen im Takt des alten Kirchenkalenders, den die Russen im 10. Jahrhundert aus Byzanz übernommen hatten, zusammen mit dem orthodoxen Christentum. Morgen für Morgen bestimmte Agafja, welcher Heilige, welche Ikone gefeiert wurde, welche Liturgie zu beten war. In den vier Jahrzehnten ihrer Isolation ging den Lykows nicht ein einziger Tag verloren.

Im Jahr 7486 nach der Erschaffung der Welt, als die Auferstehung auf den 30. April fiel, 1978 Jahre nach Christi Geburt, begann eines Tages der Himmel zu dröhnen. Eine stählerne Libelle zog über die Hütte der Lykows hinweg, groß und dunkel und niedrig. Eine Weile schwebte sie bewegungslos über dem Kartoffelacker, dann näherte sie sich der Hütte, das Dröhnen war ohrenbetäubend. Als die Libelle verschwand, wussten die Lykows, dass man sie entdeckt hatte.

Ein paar Tage später hörte Agafja seltsame Tierlaute im Wald, sie lief nach Hause und sagte es dem Vater. Karp Lykow horchte stirnrunzelnd. Hunde, sagte er. Agafja hatte nie einen Hund gehört.

Als das Bellen näher kam, mischte es sich mit Stimmen. Dann traten vier Menschen aus dem Wald, drei Männer und eine Frau. Es waren sowjetische Geologen, die etwa 20 Kilometer entfernt eine Forschungsstation eingerichtet hatten, sie suchten nach Erz. Beim Überflug der Taiga hatten sie vom Hubschrauber aus zufällig den Kartoffelacker der Lykows bemerkt.

Einen Moment lang standen sich die Geologen und die Einsiedler wortlos gegenüber, die einen voller Neugier, die anderen voller Furcht.

Wer seid ihr?, fragten die Geologen.

Wahre Christen, sagte Karp Lykow.

Um zu erfahren, was danach geschehen war, sprach ich mit Jerofej Sedow, Agafjas einzigem Nachbarn. Seine Hütte stand ein paar hundert Meter stromabwärts. Als er mir die Tür öffnete, traf mich der Anblick unvorbereitet. Vor mir stand ein breiter, bärtiger Mann um die 60, dem das rechte Bein fehlte. Er trug eine Prothese aus sowjetischer Produktion, die wie ein Überbleibsel der Zarenzeit aussah – ein Piraten-Holzbein. Grinsend genoss Jerofej den Überraschungseffekt. Er sah aus wie ein gutmütiger, einbeiniger Bär.

Damals, als die Lykows entdeckt worden waren, hatte Jerofej in der Geologensiedlung gearbeitet, als Bohrmeister. Er erinnerte sich an die ersten zaghaften Besuche der Einsiedler, die mit Körben voller Kartoffeln und Zirbelkernen bei den Geologen aufgetaucht waren. Alle Versuche, ihnen Gegengeschenke zu überreichen, wehrten sie kopfschüttelnd ab – der Glaube verbot es ihnen, Geschenke von Häretikern anzunehmen. Erst später, als eine Art Freundschaft entstanden war, ließen sich die Lykows, obwohl sie nach wie vor keine Lebensmittel annahmen, manchmal Stoffe schenken, Gummistiefel, eine Axt, zwei Ziegen. Das wichtigste Geschenk aber war die Neuigkeit, dass ihnen keine Verfolgung mehr drohte.

Jerofej schloss die Einsiedler in sein sibirisches Bärenherz. Als die Geologensiedlung in den 90er Jahren geschlossen wurde, merkte er schnell, dass ihm die Lykows fehlten, diese seltsamen Menschen, die in ihrer selbst gewählten Einsamkeit so glücklich gewirkt hatten. Vielleicht, dachte Jerofej, war es gerade die Einsamkeit, die sie glücklich machte.

Etwas später gab er seinen Beruf auf und wurde Pelzjäger. Ganze Winter verbrachte er in abgelegenen Jagdhütten, allein in der Taiga, es war die glücklichste Zeit seines Lebens. Sie endete mit einem Unglück. Eines Winters erfror ihm tief in der Wildnis ein Zeh. Im Frühjahr, als man ihn holen kam, war der ganze Fuß bläulich verfärbt. Im Krankenhaus schnitt man ihn ab. Die Wunde heilte nicht. Man schnitt mehr ab. Die Wunde eiterte. Man entfernte Jerofej das gesamte Bein. Noch immer wuchs die Wunde nicht zu. Ein Arzt empfahl Jerofej schließlich einen Umzug: Ziehen Sie aufs Land, sagte er, in eine möglichst keimfreie Umgebung.

So entschied Jerofej, in die Taiga auszuwandern.

Er ließ sich bei Agafja nieder, die inzwischen alleine lebte. Ihre Geschwister waren kurz nach der Entdeckung der Familie gestorben, in rascher Folge, mutmaßlich an Krankheiten, die Besucher aus der Außenwelt eingeschleppt hatten. Ein paar Jahre später, kurz nach der Schließung des Geologenlagers, starb schließlich auch Agafjas Vater, der hochbetagte Karp Lykow. Jerofej wusste, dass die verwaiste Einsiedlerin Hilfe brauchte. Er wusste auch, dass ein Einbeiniger in der Taiga keine große Hilfe ist. Aber ein Einbeiniger ist immer noch besser als kein Zweibeiniger.

Jerofejs Sohn half ihm, sich einzurichten. Er besuchte den Vater regelmäßig, um ihn mit Lebensmitteln zu versorgen, Konservenfleisch, Büchsenmilch, Dosengemüse. Meist blieb der Sohn ein paar Wochen, um die Hütte auszubessern und Brennholz für den Winter zu hacken. Das Holz reichte für zwei, und Agafja war froh, dass sie es nicht mehr selbst hacken musste. Im Gegenzug schenkte sie Jerofej jeden Monat zwei Säcke Kartoffeln.

Ich begriff erst spät, dass Jerofej und Agafja außer Brennholz und Kartoffeln nicht mehr viel verband. Wenn sich die beiden am Flussufer begegneten, grüßten sie sich, aber ich sah sie nie miteinander reden. Es gab Glaubenskonflikte zwischen ihnen, Jerofej weigerte sich, Agafjas rigide Regeln zu befolgen. Er glaubte an Gott, er hatte sogar altgläubige Familienwurzeln, aber er begriff nicht, was Gott gegen Konservenbüchsen hatte, warum Styropor des Teufels war, weshalb man den Ofen nur mit einem Kienspan anzünden durfte, nicht mit einem Feuerzeug.

Sie hatten sich auseinandergelebt. Im Umkreis von 200 Kilometern gab es keinen Menschen außer Jerofej und Agafja, aber sie lebten nebeneinander her wie Nachbarn in einer Reihenhaussiedlung. Keiner von beiden wirkte unglücklich mit diesem Zustand. Jerofej war in die Taiga gegangen, weil er die Einsamkeit suchte. Agafja war in der Taiga geblieben, weil sie keine Gesellschaft brauchte.

Nur ein Mal hatte Agafja versucht, die Taiga zu verlassen. Nach dem Tod ihres Vaters fanden sich entfernte Verwandte, die aus der Zeitung vom Schicksal der Lykows erfahren hatten. Sie luden Agafja in ihr Dorf ein, eine kleine Altgläubigengemeinde im Altai-Gebirge. Ein paar Monate vor meiner Reise zu Agafja hatte ich die abgelegene Bergsiedlung besucht. Für mich war es das mit Abstand weltfernste Dorf, das ich je gesehen hatte. Aber nicht für Agafja.

Die Geologen flogen sie per Hubschrauber zu ihren Verwandten. Agafja blieb ein paar Wochen. Mit den Dorfbewohnern verstand sie sich gut. Nur die Autos störten sie. Und die Stromleitungen. Im Himmel waren ihr zu viele Flugzeuge, in den Häusern zu viel Licht. Die wenigen Lebensmittel, die die Verwandten nicht selbst anbauten, sondern im Laden kauften, schob Agafja zur Seite, wenn man sie ihr vorsetzte. Sie diskutierte über Glaubensfragen, über winzige Details, die im Dorf nie jemand infrage gestellt hatte, bevor Agafja auftauchte.

Am Ende boten die Verwandten ihr an, eine eigene Hütte für sie zu bauen, außerhalb des Dorfs, im Wald. Bevor Agafja in den Hubschrauber stieg, versprach sie, es sich zu überlegen. 20 Jahre war das nun her. Sie war nie zurückgekehrt.

„Ich kann nicht bei ihnen leben“, sagte sie, als wir in der letzten Nacht gemeinsam in ihrer Hütte saßen. „Gestritten haben wir uns. Die Verwandten sagten: Die Erde dreht sich, sie kreist um die Sonne. Ich las ihnen aus der Schrift vor: Die Erde steht unbeweglich.“

Vehement schüttelte sie den Kopf.

„Ich werde hier sterben. Wohin sollte ich gehen? Ich weiß nicht, wo noch Christen leben auf dieser Welt. Es kann nicht mehr viele geben.“

Hinter ihrem Rücken stand der Erlöser. Die Ikone lehnte neben dem Fenster, Christus als Weltenherrscher, zwei Finger zur Segensgeste erhoben, als schlage er das alte Kreuzzeichen, mit dem die Flucht der Lykows vor mehr als drei Jahrhunderten begonnen hatte.

Als Agafja meinen Blick bemerkte, zog sie einen Kienspan aus dem Ofen und hielt ihn vor das Christusbild. Dann zeigte sie mir die beiden anderen Ikonen, die neben dem Erlöser standen. Sie waren alt, uralt, gemalt in der Zeit vor der Kirchenspaltung. Die Jahrhunderte hatten ihre Motive nahezu ausgelöscht. Von Johannes dem Täufer war nur ein Schatten in goldbrauner Nacht geblieben, vom Letzten Abendmahl nichts als ein schwarzes Stück Holz. Minutenlang stand ich sprachlos vor diesen unsichtbaren Bildern, die nur noch Agafja sehen kann.

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