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Thikwa: Bekenntnis zum Irrsinn

Wie man ins Theater geht, um als ein anderer herauszukommen: Eine Hommage an das Berliner Bühnenwunder Thikwa.

Immer seltener gehe ich ins Theater. Dekonstruktion und Kunstgewerbe langweilen mich, ich lese lieber die Texte. Das Theater, wie es sich momentan als übersubventionierter Staatsbetrieb präsentiert, geht kaum mehr an seine Grenzen. Kunst aber, will sie wahrhaftig sein, hat den Charakter der Grenzsprengung. In unserer Zeit, in der das Subjekt die Kulturtechnik des Lesens und des mitgeschöpflichen Denkens rapide verlernt, wäre Theater als konservative Kunst, die das gedruckte Wort gegen die Medienmaschine, die Beschleunigungsfalle behauptet, notwendig wie so oft in Krisenzeiten – die Textästhetik als Kraft, als Gegenwelt zu dem, was vorherrscht.

Aber es gibt Überraschungen. Zum Beispiel im Theater Thikwa, das mit geistig behinderten Schauspielern arbeitet. Alle kultursnobistischen Vorurteile, denen wir so schnell zum Opfer fallen – das ist doch eine Ausbeutung der Lage dieser Menschen, das ist doch Sozialarbeit, das kann doch nur unangenehm und peinlich sein – werden von dieser Theatertruppe auf den Kopf gestellt. Denn das Thikwa ist, indem es als Vorgang extrem unangenehm und deshalb als Kunstvorgang angenehm unangenehm ist, ein Glücksfall der Theaterkunst. Es ist ein Theater, das den Zuschauer in jeder erlebten Minute als unpräparierten Zuschauer im Stich lässt und dann neu erfindet, fast möchte ich sagen: ausspuckt – so, als zupfe man sich im Spiegel das eigene Gesicht neu zurecht, weil es einem plötzlich fremd geworden ist.

Thikwa ist eine feste Größe in Berlins Off-Theater-Szene. Behinderte und nicht behinderte Performer arbeiten hier zusammen, an eigener Spielstätte in Kreuzberg mit durchgehendem Spielbetrieb. „Anwesend. Aufgehoben“ heißt das Stück, eine Collage mit Texten aus der Sammlung Prinzhorn. In dieser einzigartigen Sammlung, die seit einigen Jahren einen dauerhaften Museumsplatz in Heidelberg hat, werden bildnerische Werke von Insassen der so bezeichneten Irrenanstalten aus der Zeit des Kaiserreiches aufbewahrt. Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, Textilien – und eben auch Texte, von Bildergeschichten bis zu Pamphleten.

Natürlich tragen diese Texte den unsichtbaren, normativen Stempel „geisteskrank“, doch waren, um nur drei Namen zu nennen, auch Antonin Artaud, Witold Gombrowicz und Else Lasker-Schüler (mit ihrem späten Wunderwerk „Ichund Ich“) in diesen Grenzgebieten beheimatet. Und wer entscheidet: Du gehst in die Literaturgeschichte ein, du dort hinten bleibst eine Krankenakte? Regisseur Gerd Hartmann hat die oft wahrhaft prophetisch anmutenden Texte, bei denen es immer um alles geht, um Weltuntergang und Paradiessehnsucht, aus der Anonymität, aus der Grube der Krankenakte geholt und verlebendigt. Ganz so, wie es Kafkas Affe vor der Akademie macht: „Die“ sind wir, das nichts weiter als voyeuristische, verbrauchte, nach Sensation gierende, neurotische Publikum. Tatsächlich werden die Akademiemitglieder, die vermeintlich Gesunden, im Rollentausch vorgeführt. Wir sind die Ärzte, das Konzil der Vernünftigen, das den Patienten zuschaut, und dabei wird deutlich, dass man uns am allerwenigsten trauen kann.

„Deutsche sind keine Schauspieler, sie tun nur so“, lasse ich einen amerikanischen Filmstar in meinem Roman „Der Vogel, der spazieren ging“ sagen. Als ich das schrieb, kannte ich das Thikwa noch nicht, dessen Schauspieler niemals zu rollenspielenden Überverkäufern abgerichtet werden wie im herrschenden Regietheater, sondern einfach nur verkörpern und sind. Theater ist im Thikwa kein Spiel mehr, vielmehr ein existenzieller Prozess; Kunst und Leben sind kaum noch geschieden. Die Darsteller verweigern das Funktionieren, weil die Texte im konsumierbaren Sinne nicht „funktionieren“. Die Darsteller hängen nicht an unsichtbaren Regiefäden, wo der feudale Kunstführer sagt: Gut gemacht, hier hast du ein Zuckerchen, denn du hast pariert.

Produktiv paradox ist die Situation des über das Theater Thikwa Schreibenden, denn es ist ein Theater jenseits der Beschreibbarkeit: das Spiel als Existenzform, die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben, das Ich lebt den Text, das Ich ist der Text. Das ist Magie, nicht nur Theatermagie. Was habe ich, der vermeintlich Kunstsinnige, der das jetzt herrschende Theater, die subventionierte Ostermeierei für gleichermaßen notwendig und überflüssig hält, gelernt? Ganz, wie Tabori dachte: „Normale“ – Schauspieler wie Hans Morgeneyer und Makiko Tominaga – und „Kranke“, wie die Gesellschaft festgelegt hat, das gibt es so mit Sicherheit nicht. Die Choreografie führt beide Welten zusammen, sie generiert etwas Unfassbares. Begriffe, wie so oft, wenn es um Kunst geht – Performance oder Spektakel – , taugen hier gar nichts. Eine Art Wiedergeburt des Theaters, ganz so, wie man sie sich immer erträumt hat, findet statt. Die Antike schillert auf, Shakespeare. Die großen Soliloquien, aus denen die Moderne entstand, werden szenische Realität.

Natürlich erschafft Regisseur Gerd Hartmann in seiner luftigen, hochmusikalischen Inszenierung das Lemuren- und Schattenreich mit subtilen Mitteln noch einmal neu. Doch sind es die sehr heutig anmutenden Soliloquien der sogenannten geistig Verwirrten aus der Kaiserzeit, die hier eigentlich Regie führen. So war es wohl in der Antike, als die Menschen eine Bühne bauten und sagten, wir halten euch den Spiegel vor. Im Thikwa ist die Sprachebene zu erleben, die die Urschrift der Kunst ausmacht, die wir in unserem sogenannten normalen Zustand nicht mehr erreichen können. Es ist die Porosität in der Wahrnehmung, die passgenau unser junges Jahrhundert beschreibt, eine zersplitterte und gestörte Wahrnehmung.

Es gibt eine extreme nihilistische Tendenz in der Art, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen in unserer Wirklichkeitsmaschine. Unsere Kommunikation ist angstbesessen. Die Texte in „Anwesend.Aufgehoben“ greifen das auf, ohne verrätselt oder künstlich zu wirken. Wir kommen zu Thikwa und haben vorher die Nachrichten gesehen: Kriegsbilder, die übergehen in Wirtschaftsskalen und Wirtschaftsgespenster, die wiederum übergehen in ein Skifliegen, der reale Wahnsinn. Im Thikwa-Theater dann die Antwort auf den Befund, poetisch, irre, die Irren-Logik als stimmige Textur, mutmachend, als Bekenntnis zum Irrsinn, ganz wie bei Dürrenmatt in der Anstalt Les Cerisiers, in der der Wahn als Rest der Emanzipation des Subjekts überlebt.

Einer der Höhepunkte des Stückes ist eine Sequenz, in der die Butoh-Tänzerin Makiko Tominaga mit Sabrina Braemer tanzt, einer Schauspielerin mit dem Down-Syndrom. Die Butoh-Tänzerin lockt ihre Partnerin mit ihren Bewegungen und verschmilzt mit dieser, Sprache wird zum physischen Ausdruck. Es ist ein irrer Tanz und zugleich eine Liebesszene, in der Braemers Gesicht in einen vorzivilisatorischen Zustand gerät. Der vorbewusste Zustand erobert die Szene, den das normierte Sprachgefängnis nicht fassen kann. Deutung überflüssig, Erlebnis großartig. Ob der Begriff sakrales Theater taugt? Dreimal war ich in der Vorstellung und kam stets als ein anderer heraus. Bei Thikwa reden die Menschen in den Zwangsjacken über Imperien und Reiche, bis es wehtut, sie beginnen die Texte zu wiederholen, die permanente Wiederholung aber therapiert uns, die vermeintlich Freien, Normalen. Theater als Abenteuer, jenseits der Diskurse, weder moralische noch belehrende Anstalt, sondern nun wirklich einmal die Axt für das gefrorene Eis in uns.

Jeder Mensch, schrieb Heimito von Doderer, sei in Bezug auf den anderen ein Jenseits im Diesseits, „das über-astronomische Maß dieser Entfernung darf nie schwinden“. Ich hatte vergessen, dass es sie noch gibt, diese jenseitige Kunst.

Martin Kluger, 1948 in Berlin geboren, hat sich als Erzähler mit den Romanen „Abwesende Tiere“ und „Die Gehilfin“ einen Namen gemacht. Für seinen jüngsten Roman „Der Vogel, der spazieren ging“ (DuMont) erhielt er soeben den Bremer Literaturpreis. – „Anwesend. Aufgehoben“ läuft vom 3. bis 8. Februar täglich um 20 Uhr im Kreuzberger Theater F40, Fidicinstraße 40. Reservierungen unter 030/691 12 11 oder tickets@thikwa.de.

Martin Kluger

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