zum Hauptinhalt

Zum 70. Geburtstag: Otto Sander: Der Glücksrabe

"Humor kommt aus der Trauer", hat man ihn einst gelehrt. Otto Sander, der am Donnerstag 70 wird, hält seit Jahrzehnten die Schwebe zwischen Lachen und Jammer, im Leben wie im Spiel.

Darauf ist Otto Sander schon ein bisschen stolz. „Ich bin der einzige Schauspieler, der beide Chaplin-Stiefel besitzt, den rechten und den linken!“ Es sind die geknautschten Latschen des Tramps, aber aus Bronze und mit einem Eisenfuß. Sauschwer. Einer steht zuunterst im Bücherregal, der andere „zum Auslüften“ auf dem Balkon – beide hat Otto Sander vor Jahren bekommen als bester Darsteller beim Deutschen Filmpreis.

Wenn man ihn kurz vor seinem morgigen 70. Geburtstag in der durch allerlei Künstlerfeste legendären Altbauetage in Berlin-Schöneberg besucht, wo er mit seiner Frau, der Schauspielerin Monika Hansen – und früher auch den Kindern Ben und Meret Becker –, seit 1974 wohnt, dann ist schnell die Komik im Spiel. Schon im Flur hängen Fotos mit Widmungen etwa des Clowns Charlie Rivel und des Freundes Vicco von Bülow alias Loriot. Und bei seiner eigenen Signatur macht Otto Sander das „O“ mit zwei Punkten und Strichen gerne zum Mondgesicht, in dem der Mund die Schwebe hält: zwischen Lachen und Jammer.

Darum geht’s ja bei allen Untiefen und Abgründen der Schauspielerkomik. „Otto, Humor kommt aus der Trauer“, hat ihn einst der große kleine Komödiant Curt Bois gelehrt. Mit dem aus dem Exil zurückgekehrten Bois, der noch im hohen Alter vorm Friedhof am liebsten ein Freudenhaus besuchte, hatte er in Wim Wenders’ „Himmel über Berlin“ gespielt. Und mit seinem Engel-Kollegen Bruno Ganz hat er danach über Bois (und den Antipoden Bernhard Minetti) einen bewegenden Dokumentarfilm gedreht. „Man muss selber der Unglücksrabe sein, damit die Zuschauer lachen“, sagt Sander beim mittäglichen Tee und den dauertäglichen Gauloises Blondes. „Ich muss stellvertretend ins Unglück rennen, das ist für mich Komik.“

Der Fastsiebziger mit dem Haar und dem Schnauzer so rötlich wie seine Zigarettenschachtel zeigt oft ein noch bubenhaftes Grinsen. Und ist im nächsten Moment so stoisch ernst, als hätte er statt Chaplinschuhen eher die melancholische Maske eines Buster Keaton verdient. „Otto ist sehr wortwitzig, aber sein Humor bleibt immer trocken. Obwohl er auch ein großer Sentimentaler ist und ganz nah am Wasser gebaut.“ Das erzählt, als er mal aus dem Zimmer geht, Monika Hansen über ihren Mann. Doch verrät sie kein Geheimnis. Sander meint selber: „Ich lache nie laut. Und weine leicht. Wenn ich Kindern die Weihnachtsgeschichte vorlese, Lukas-Evangelium Kapitel 2, die Engel verkünden es den Hirten und ,Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen’ – dann kommen mir jedes Mal die Tränen.“ Auch jetzt. Das ist hier keine Frage des Glaubens, sondern des Gemüts.

Lesen Sie weiter auf Seite 2

Als Otto Sander nach ersten Stationen in München, Düsseldorf und Heidelberg (dort mit dem wilden jungen Ulrich Wildgruber) ab 1970 an der Berliner Schaubühne seine Karriere so richtig begann, da waren sie alle aus der Kirche ausgetreten. Man lernte im Schaubühnen-Ensemble, damals noch am Halleschen Ufer unter der strengen genialischen Ägide von Peter Stein, neben dem Spielen steinhart auch Marxismus-Leninismus. Und schon zu jener Zeit war der Endzwanziger Otto Sander ein Unikum.

Denn was die anderen im Milieu der linken Künstler und Westberliner Wehrdienstvermeider zunächst nicht wussten: Der in Peine bei Hannover als Kriegskind des Marineoffiziers und Flotilleningenieurs Otto Sander in einer Familie, in der alle Stammhalter Otto hießen, aufgewachsene sommersprossig norddeutsche Junge hatte zwischen Abitur und Schauspielstudium gleichfalls in der Marine „gedient“. So besitzt Otto Sander nicht nur ein Hochseekapitänspatent. Er war in den revolutionär bewegten Umbruchsjahren des vor und nach 1968 von den Regisseuren Peter Stein, Peter Zadek, Claus Peymann neu befeuerten bundesdeutschen Theaters der gewiss einzige: Leutnant zur See der Reserve.

Als er 1981 in Wolfgang Petersens Film „Das Boot“ den gegen das Kriegsgrauen antrinkenden, gleichwohl hochdekorierten U-Bootkapitän Thomsen spielt, ist das sein erster großer Kinoerfolg. Und Otto Sander ahnte oder wusste wohl mehr vom Hintergrund der Rolle als fast alle anderen Beteiligten. Kannte auch Fluch und Segen von „König Alkohol“, wie der Schnaps bei dem amerikanischen „Seewolf“-Autor Jack London heißt. Ein Revolteur aber war Sander allemal. Doch lag der befreiende Aufstand im Spiel.

„Politisch im provokanten Sinne war ich nie. Ich war SPD-Wähler. Als ein paar von unseren Superkommunisten an der Schaubühne 1971 Enzensbergers ,Verhör von Havanna’ machten, gehörte ich schon mit Bruno Ganz, Edith Clever und Jutta Lampe zur Fraktion der Sensibelchen, die stattdessen Peter Handkes fragilen, schwirrenden ,Ritt über den Bodensee’ spielten.“ Eine Kunst-Etüde. Sander bemerkt amüsiert, dass der inzwischen auch durch manch softige TV-Produktion bekannte Protagonist jener Superkommunisten („bitte keinen Namen nennen“) heute als inbrünstiger Katholik „jeden Sonntag in die Kirche geht“.

Und die Revolte im Spiel? „Im Theater durfte ich alles machen und leben, was vorher verboten war.“ In der protestantischen Familie. In der Schule. Beim Militär. Zwar flog er 1964 als Schauspieleleve kurz vor dem Abschluss von der Münchner Otto-Falckenberg-Schule – weil er ohne Genehmigung seiner Lehrer eine Rolle als clownesker Sargträger in einer Shakespeare-Inszenierung des ehrfürchtig bewunderten Fritz Kortner ergattert hatte. Solch eine Disziplinarstrafe klingt heute unglaublich. Sander indes machte seine Abschlussprüfung extern, denn anders wäre es „eine Schande“ gewesen, und „Disziplinlosigkeit“, ausgerechnet das, ließ er sich nicht nachsagen. Auch nicht als Ausbrecher ins Reich der Komödianten.

Lesen Sie weiter auf Seite 3

Gerade die Freiheit des Spiels beruht für ihn auf höchster Präzision. Darin trifft er sich mit dem auf seine Art sehr preußischen Peter Stein, „unserem Zuchtmeister“. Menschlich und in der Empfindlichkeit war ihm der auf den Monat gleich alte, vor zwei Jahren allzu früh gestorbene Regievisionär Klaus Michael Grüber gewiss näher gewesen. Als sie in den 70er Jahren an der Schaubühne zusammen an den „Bakchen“ des Euripides arbeiteten, war Otto Sander als antiker Seher Teiresias einmal in einem dunklen Bretterverschlag unter der Bühne eingenickt. Grüber, als er die Bretter öffnen ließ, sah den Schläfer und wartete anderthalb Stunden, bis Sander die Augen öffnete und fragte nur: „Otto, wie geht es dir?“

Dass es einem im Schlafe kommt, wäre das Schönste. Nur ist es, vom Traum zur Tat, wohl das Schwerste. Bei Grüber spielte Sander an der Schaubühne auch die Titelrolle in Kleists „Amphitryon“ (1991), dabei hin- und hergerissen in verzweiflungskomischer Persönlichkeitsspaltung als mal göttlicher, mal menschlicher Liebhaber derselben Frau. Aber Grübers wesentliche Regie-Anmerkung war nur die: Er, Otto, möge sich ein gelb blühendes Kornfeld im Süden vorstellen, bei Sonnenuntergang. Sander lächelt noch zwanzig Jahre danach. „Wie bitte spielt man das?“

Wie genau er einen seiner allergrößten Theatertriumphe gespielt hat, auch das ist bis heute ein Geheimnis. Oder bleibt es beinahe. Vor gut drei Jahrzehnten kam der amerikanische Gesamtkünstler Robert Wilson zum ersten Mal als Regisseur nach Deutschland und inszenierte in Berlin seine fünfeinhalbstündige Rätsel-Schau „Death, Destruction & Detroit“. Sander sagt: „Das habe ich geliebt! Diese Mischung aus Freiheit und Maß.“ Einer der Höhepunkte der mit sonderbar grauen Menschen, Maschinen und riesigen Zahnrädern zu minimalistischer Musik sich vollziehenden Aufführung war gegen Ende hin ein minutenlanger Stepptanz, den Sander als Mann in einem Knickerbocker-Tweedanzug unter einer monumentalen Glühbirne hinlegte. Mit dem Bild davon kam er selbst in die „New York Times“ und wurde als Erfinder des hier erstmals vorgeführten „slow motion tap-dance“ gerühmt.

Tatsächlich balancierte Sander auf seinen Fußspitzen wie eine Mischung aus somnambuler Ballerina und einem Mann, der hanebüchen komisch, bei jedem Stepp-Tritt zu fürchten schien, in einen unsichtbaren Abgrund zu fallen. Darum wirkte der an sich schnelle Tanz so schier unglaublich verzögert. „Es ging nur, weil ich mir ein inneres Metronom vorstellte und, wie bei jeder Aktion in Bob Wilsons Theater insgeheim zählte.“ Otto, habe Bob immer gesagt, „the most important thing is your timing“. Timing? Für Sander bedeutet es die Verbindung von Intuition und Transpiration. Sie ist der Sprit des Otto-Motors. Angeborene Musikalität und erarbeitete Technik. „Jedenfalls ist Timing“, brummt er lächelnd, „keine Stadt in Mittelchina.“ Dieser Kalauer gehört zu den schönen Beispielen seines Wortwitzes.

Lesen Sie weiter auf Seite 4

Eigentlich muss man dazu auch seine Stimme hören. Dieser sonore, sanft aufgeraute Sound, der nach Whiskey, Weite, Welterfahrung klingt, hat Otto Sander auch zu einem der populärsten Sprecher gemacht. Dustin Hoffman auf Deutsch ist Otto Sander. Unzählige Fernsehdokus, Leseabende und Hörbücher haben ihm den Beinamen „The Voice“ eingebracht.

Einmal saßen auch wir zwei Tage, über Kopfhörer verbunden, in zwei unterirdischen Kabinen des ZDF–Hauptstadtstudios Unter den Linden. Otto Sander war die männliche Erzählstimme meiner sechsstündigen Fernsehfilmreihe „Das Jahrhundert des Theaters“. So eine Aufnahme vorm Schirm im Tonstudiobunker ist kein reiner Spaß. Jedes Komma, jeder Atemzug muss zum Bild passen und der Text bei unverhofften Rhythmus- und Inhaltsproblemen sofort umgeschrieben und angepasst werden.

Aber solche Probleme gab es mit Otto Sander nicht. Nicht bei seiner Intelligenz und dem Talent fürs Timing. Es ging, trotz täglich zehn Stunden Arbeit, alles so mühelos, dass die Redaktion erst später einen inhaltlichen Versprecher und einen Zahlendreher bemerkte. Die Ausstrahlung stand bevor, aber Otto war bereits auf Reisen und unerreichbar für eine Korrektur. Also suchte man bei ZDF/3sat nach entsprechenden Buchstaben, Silben oder Zahlwörtern in Sanders Sprechpassagen, um diese digital neu zu montieren. Das gelang nicht, und die „Fehler“ wurden gesendet und auch bei mehreren Wiederholungen nie moniert. Das habe ich Otto Sander erst jetzt erzählt.

„Oh“, meint der Spiel- und Sprachkünstler, „nun biete ich bei jeder Aufnahme gleich am Anfang ohne Mehrgage an, das ganze Alphabet und kleine Einmaleins aufzusagen. Dann haben sie mich für alle Fälle auf Vorrat.“ Sagt man dies so ernsthaft wie er, wird es sofort zur Sekundenkomödie. Nur in seinen wasserblauen Matrosenaugen blitzt dazu, wie ein fernes Gewitter, der Narrenschalk.

Otto Sander ist ein Hintergrundkomiker. Ob er in Botho Strauß’ „Trilogie des Wiedersehens“ von einem fiktiven Kriminalroman „über Massenarbeitslosigkeit“ und einem Mörder namens Josef Alias in einer sich in den Windungen des Handlungs-Wahnsinns verheddernden Riesenmonolog erzählt – oder ob ihn als Wartenden auf dem Einwohnermeldeamt der „Kuss des Vergessens“ streift und im gleichnamigen Strauß-Stück zum absonderlichen Liebhaber macht: Er lässt einen voll Schwermut lachen. Wobei er einen Traumtänzer noch im Sitzen, im puren Dahocken spielt.

Das alles ist heute Theatergeschichte. Was wohl nie in diese Geschichte eingehen wird, weil es keiner je sehen konnte, ist: Otto Sander als Loriots Hintermann. Vielleicht das Hintergrundkomischste dieses langen, wunderbaren Schauspielerlebens. Viermal nämlich, bis 2006, war Otto Sander bei der jährlichen Berliner Aids-Gala für den Moderator Vicco von Bülow den jeweils ganzen Abend in den Kulissen gesessen. Vicco hatte seinen 18 Jahre jüngeren Freund Otto, weil er sich selber gesundheitlich „wackelig“ fühle, um seinen Beistand als Backup gebeten. Für den Fall, dass er selber einen „Schwächeanfall“ erleide, sollte Sander in der Moderatorenrolle einspringen. Und weil V. v. B. alle seine Sketche und jeden Auftritt penibel zu proben pflegt, musste auch Sander jede Geste, jeden Satz wie ein Double mit ihm üben. Und immer für nichts als die Freundschaft. „Der Vicco war, kaum dass er auf die Bühne trat, natürlich jedes Mal in Hochform und kerngesund!“

Lesen Sie weiter auf Seite 5

Neben dem Theater hat Otto Sander in über 150 Filmen fürs Kino und Fernsehen gespielt, gelegentlich auch in internationalen Produktionen mit Gérard Depardieu oder John Malkovich – und in Wim Wenders’ Nachmauerfall-Film „In weiter Ferne, so nah!“ war er 1993 noch mal der Engel Cassiel aus dem Berliner „Himmel“, traf mit Bruno Ganz im neuen Berlin auf Peter Falk, Willem Dafoe und legte seinen Arm auch um den leibhaftigen Michail Gorbatschow.

„Alle lieben Otto“, heißt es. Sie grüßen ihn auf der Straße, und in der Charlottenburger „Paris Bar“ hat er als einziger am Tresen ein Messingschild mit seinem Namen. Dort hat ihm, der Bilder von Beuys oder Gerhard Richter noch aus seinen Düsseldorfer Frühzeiten besitzt, auch mal Warhol eine Zigarettenschachtel mit „Andy“ signiert. Die ist nun an die Bücherwand gepinnt.

In Gold gerahmt hängt in seinem Arbeitszimmer eine Strophe des italienischen Dichters Salvatore Quasimodo: „Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde / getroffen von einem Sonnenstrahl, / und schon ist es Abend.“ Zum Preis der Prominenz gehört offenbar auch, dass Otto Sander, als er vor fünf Jahren als Krebspatient in einem Berliner Krankenhaus hilflos an Schläuchen lag, von einem als Arzt mit Gesichtsschutz verkleideten Fotoreporter heimgesucht und aufs Titelbild einer Boulevardzeitung geknallt wurde. Das war wie aus einem Film, in dem er nicht mitspielen würde. Aber das ist vorbei. Als nächstes kommt er als Anführer eines Rentneraufstandes und als Flugzeugentführer ins Kino, mit den rebellischen Altstars Ralf Wolter, Angelica Domröse und Herbert Feuerstein. Und in diesen Tagen liest er als Hörbuch von Jonas Jonasson die Geschichte eines weiteren anarchischen Ausbruchs aus einem Altersheim: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“.

Das ist passend, findet Otto Sander, bevor er zu seinem Geburtstag am 30. Juni mit der Familie aus Berlin entschwindet.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false