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Arabische Welt: Region vor dem Bankrott

Ehemaliger Staatschef, das gibt es bei uns nicht, heißt es in Tunis und Tripolis, in Kairo und Riad. Wer in den arabischen Staaten einmal an der Macht ist, hält daran fest. Doch die Region schlittert ihrem politischen Bankrott entgegen.

Die arabische Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Das Urlaubsland Tunesien erlebt einen Aufstand seiner Jugend wie noch nie seit der Unabhängigkeit 1956. In Ägypten halten wütende Christen nach dem Selbstmordanschlag auf eine koptische Kirche tagelang das Land in Atem. Im ölreichen Algerien rebellieren die Bürger, weil sie ihr täglich Brot nicht mehr bezahlen können. Im Irak will der Terror kein Ende nehmen, der im vergangenen Jahr mehr als 3600 Menschen das Leben kostete. Die Vertreibung der Christen aus Mesopotamien trägt längst die Züge einer historischen Katastrophe. Das Armenhaus Jemen ist auf der arabischen Halbinsel zu einem Brückenkopf von Al Qaida geworden. Und dem Libanon droht ein neuer Bürgerkrieg.

Die Fundamente der Region, so formulierte US-Außenministerin Hillary Clinton dieser Tage, drohen im Wüstensand zu versinken. Keine andere Gegend der Welt hat so junge Menschen und so alte Potentaten. Von Marokko bis Libanon, von Ägypten bis Jemen gehört das Bevölkerungswachstum zum höchsten auf dem Globus. Zwei Drittel der Tunesier sind jünger als 30 Jahre. Im drangvoll engen Niltal kommen jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen auf die Welt. Alle zwölf Monate drücken hunderttausende Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt – viel zu viele ohne jede Chance auf ein erträgliches Auskommen.

Ehemalige Staatschef, das gibt es bei uns nicht, spotten die Menschen in Tunis und Tripolis, in Kairo und Riad. Wer in den 22 arabischen Staaten einmal an der Macht ist, hält daran fest – bis zum letzten Atemzug. Tunesiens Zine el-Abidine Ben Ali regiert seit 23 Jahren, Hosni Mubarak seit 30. Beider Nachbar Muammar Gaddafi ist mit 41 Jahren inzwischen der Rekordhalter auf dem Planeten. Das Vater-Sohn-Duo der Assads in Syrien herrscht seit 39 Jahren, Ali Abdullah Saleh im Jemen seit 32 Jahren, wenn man seine Zeit an der Spitze des früheren Nordjemen mitzählt. Alle Macht geht vom Volke aus – dieser Satz gehört für die arabischen Autokraten allenfalls in das Poesiealbum westlicher Demokratierhetorik. Die Parteienlandschaft ist eine Farce. Regungen der Zivilgesellschaft werden als Bedrohung empfunden und nicht als Bereicherung. Soziale Netzwerke im Internet nach Kräften gestört. Und ausgerechnet in den beliebten deutschen Urlaubsländern Tunesien und Ägypten landen Blogger und Journalisten regelmäßig hinter Gittern.

Aber das Ende des Ölreichtums, auf den sich viele Mächtige bisher stützen konnten, ist inzwischen in Sichtweite. Meist reicht der schwarze Segen noch für eine Generation. Der Nachwuchs, der künftig seinen Lebensstandard komplett aus eigener Kraft erwirtschaften muss, drückt bereits die Schulbänke. Und immer mehr dieser jungen Menschen fragen sich, wohin die Reise eigentlich geht – mit ihnen und ihrer Zukunft. Stagnation ist das dominierende Lebensgefühl. Die Armut wächst genauso wie der religiöse Fanatismus. Die meisten Regierenden sind alt und ideenlos, ihre Entourage bis in die Haarwurzeln korrupt. Entsprechend bescheiden fallen die Bilanzen aus bei Demokratisierung, moderner Erziehung und wirtschaftliche Entwicklung. Die Araber sind die einzige Staatengruppe in der Welt, die seit Ende des Kalten Krieges unverändert autoritär geblieben ist; es existiert kein einziges Beispiel für einen demokratischen Systemwechsel. Bei Frauenrechten und Frauenbildung stehen alle Regime zusammen am Ende der Weltrangliste. Und kein arabisches Land hat bisher einen funktionierenden Sozialstaat herausgebildet. Selbst im superreichen Saudi-Arabien gibt es Landstriche mit unvorstellbarer Armut.

60 Jahre lang hätten die Vereinigten Staaten im Nahen Osten Stabilität auf Kosten von Demokratie gefördert – und beides nicht erreicht, beklagte vor fünf Jahren Hillary Clintons Vorgängerin Condoleezza Rice in Kairo in einem seltenen Moment von Selbstkritik. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Allenfalls die Ratlosigkeit ist gewachsen angesichts einer Region, die ihrem sozialen und politischen Bankrott entgegenschlittert.

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