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Eine Frau schwenkt die ägyptische Flagge über dem Tahrirplatz in Kairo. Eine Woche nach dem Rücktritt Mubaraks versammeln sich dort wieder über eine Million Menschen.

© dpa

Umbruch in der arabischen Welt: Der Westen muss auf seinen Orient verzichten

Linke wie rechte Mythen von der arabischen Welt zerfallen, seit Millionen junger Menschen dort aufbegehren. Die neue Fremde verstört - die alte war so schön vertraut.

Von Caroline Fetscher

W ilde, wütende Reiter tauchten auf, wie aus dem Nichts. Mitten in den friedlichen Massenprotesten auf Kairos Tahrir-Platz gaben diese ägyptischen Reiter ihren Kamelen und Gäulen die Sporen. Sie trugen Turbane und saßen auf bunt gewebten Satteldecken, mit Stöcken oder Peitschen holten sie im Galopp gegen die Menge aus.

Für einen Moment war er wieder da, an diesem 2. Februar 2011: der Orient. Wie so oft fasste „Bild“ den westlichen Blick auf das Szenario am dichtesten: „Revolution mit Steinen und Kamelen“, verkündete das Blatt: „Jetzt gehen die Ägypter aufeinander los.“ Ägypten befinde sich im Bürgerkrieg, informierten die Reporter. Kairo, die Stadt der Revolution, explodiere in Gewalt. Nur wenig später wurde klar, dass die blutige, orientalische Freiluftoper von Anhängern des Regimes Mubarak selbst inszeniert, mancher Gegendemonstrant sogar für Honorar auf den Platz gekommen war. Freilich war die Inszenierung nicht nur für die Kameras des Staatssenders im Land gedacht, sondern genau dafür, dass „Bild“ und andere Medien westlichen Orient-Alarm schlagen sollten: „Chaos in Ägypten“. Nachdem die Kamele des Regimes medial enttarnt waren, hat man sie nicht mehr wiedergesehen. Und der Präsident musste gehen.

Ägypten war allerdings Zeuge einer Bürgerbewegung, nicht eines Bürgerkriegs, geworden. Dieses Ägypten ähnelte plötzlich überhaupt nicht mehr dem klassischen, westlich konstruierten Orient. Internationale Fernsehsender trugen Interviews mit jungen Bloggern, Rappern und Facebook-Aktivisten um die Welt. Entspannte junge Leute mit oder ohne Sonnenbrille sprachen von Partizipation, Demokratie, Emanzipation, weder von Allah noch von Jihad oder gar dem westlichen Satan, wie man es von spontanen Vertretern der „arabischen Straße“ erwartet hatte. Man wolle Freiheit, sagten sie. Ein „Focus“-Titel fragte so bang wie provokativ: „Kann der Islam Freiheit?”

Hamed Abdel-Samad, in Deutschland lehrender ägyptischer Politologe und Autor, warf während einer Live-Sendung des ZDF („Was nun, Nahost?“) die Frage auf, mit welcher Berechtigung latent schlummernde Gefahren hinter dem allzu auffällig friedlichen Aufstand beschworen wurden. Er gewinne den Eindruck, sagte Abdel-Samad, „dass manche hier ihren Orient wiederhaben wollen, mit Kamelen und Diktatoren.“ Abdel-Samads Beobachtung trifft zu: Der Okzident ringt um Orientierung, während der Orient seine entdeckt. Mit fast erleichterter Vehemenz wendet sich die deutsche Öffentlichkeit gerade vom verwirrenden Arabien weg, hin zur vergleichenden Lektüre von Textpassagen zur Doktorarbeit eines Ministers.

Die neue Fremde verstört. Die alte Fremde war so schön vertraut, mit ihren Basaren, Turbanen, Schleiern, Pantoffeln und Wasserpfeifen. Sicher, Frauen spielen eine untergeordnete Rolle „bei denen“, gewiss, in arabischen Haftanstalten ging es brutal zu, aber so sind die hitzigen Araber, die meisten Muslime überhaupt, nun einmal. All das hielt Touristen aus kälteren Gegenden nie davon ab, am Strand unter Palmen zu liegen, während ein paar Kilometer entfernt in einem Gefängnis irgendeinem Regimekritiker die Fingernägel ausgerissen wurden. Ebenso wenig scheuten sich Politiker und Diplomaten jeder Couleur, auf den pompösen Armsesseln der Potentaten exotischer, undemokratischer Staaten abgelichtet zu werden. Eltern eines Berliner Elitegymnasiums schrecken schon seit zehn Jahren nicht davor zurück, ihre Teenager in den Sommerferien in den von Folterknechten der Mullahs terrorisierten Iran zu schicken, damit die Schüler mal „eine andere Kultur“ kennenlernen, und bei Teppichknüpfern und Goldschmieden ein wenig persischen Orient einatmen. Bei uns wäre Folter das Ende der Zivilisation. Bei denen gehört Folter ein bisschen zur Kultur. (Wie hierzulande von 1933 bis 1945, aber der Ausrutscher ist lang vorüber.)

Auf den Orient als Folie westlicher Vorstellungen vom „Anderen“ machte der amerikanische Literaturwissenschaftler palästinensischer Herkunft, Edward Said, aufmerksam. Laut Said verdankt sich die Konstruktion und Produktion des Objekts „Orient“ einem westlichen Diskurs, nach dem er 1985 sein Hauptwerk, „Orientalismus“, nannte. Im Nachhall kolonialer Ethnisierung habe sich Europa „politisch, militärisch, soziologisch und ideologisch“ einen Orient geschaffen, der kein freies Subjekt darstelle, sondern vielmehr eingehüllt sei in eine Vielzahl von Zuschreibungen. Diese erlaubten es Westlern, sich vom Orient selbstgefällig abzusetzen, sich als Kontrast dazu zu verstehen. Erstaunlich an der Rezeption Saids ist, wie gern er von der Kulturkritik als Kronzeuge aufgerufen wird, auch wenn autoritäre Systeme infrage gestellt werden. Dabei mutiert Saids Orientalismus zu einem positiv verstandenen Kulturalismus.

Zu den Modebegriffen der Kulturwissenschaft zählen „Alterität“, „Differenz“ und „Identität“. Der Respekt vor der Andersartigkeit einer Kultur erfordere es, deren Ausdrucksformen – Schleier, Patriarchat, Scharia und so fort – unangetastet zu lassen. Schleier oder Kopftuch müssten ästhetisch und als Schutz von Frauen und Mädchen betrachtet werden, erklärten etwa die beiden deutschen Akademikerinnen, die 2007 ihre Studie „Verschleierte Wirklichkeit“ publizierten. Kritik an Verkrustungen des Islam kommt, aus einem solchen Blickwinkel betrachtet, einer Respektlosigkeit gleich, gespeist zum Beispiel aus westlichen, feministischen Projektionen. Schleierkritiker wollten, in sexistisch-kolonialer Geste, der Orientalin gewaltsam ihren Schutz vom Leibe reißen. Eine weitere links-kulturalistische Position erklärt, wer der muslimischen Welt laizistischen, demokratischen Wandel – „regime change“ – wünsche oder gar aktiv vorantreibe, der mache sich des „Menschenrechtsimperialismus“ schuldig, zum Beispiel jene Amerikaner, die im Mittleren Osten Demokratien gedeihen sehen wollen.

Komplementär dazu findet sich auf der rechten Seite die Argumentation, „der Araber“, „der Orientale“, „der Muslim“ – sprachlich mitunter im Kollektivsingular eingehegt – sei quasi genetisch eine etwas andere Spezies Mensch, auf die man keinesfalls von heute auf morgen westliche, rechtsstaatliche Prinzipien anwenden dürfe. Deutsche Richter, die Ehrenmorde als kulturbedingte Taten im Vergleich milder verurteilten, waren Protagonisten einer solchen Sicht. Denn patrimoniale Hierarchie, Gewalt, Tribalismus, Buchstabengläubigkeit – all das bräuchten die Orientalen eben, ganz besonders die frommen, bildungsfernen in den Slums oder auf den Äckern.

Ergänzt wird diese Ansicht durch das religionsgeschichtliche Argument: Da der Islam bisher ohne einen Luther, einen Reformator, geblieben sei, benötige er noch Jahrhunderte, um da anzukommen, wo „wir“ sind. Die Bewohner des Orients verharrten gewissermaßen in ihrem ureigenen Mittelalter, da dürfe man nicht zu viel erwarten. Zum selben Mittelalter passen die Islamisten als antimoderne, fundamentalistische Sektierer. Um sie in Schach zu halten, benötigt man wiederum Despoten, die ihrerseits das Mittelalter aufrechterhalten. Mit diesem Dilemma – Status quo genannt – gelte es politisch zu koexistieren.

Unterdessen, da waren sich die Kulturalisten des Westens in ihrem offenen oder latenten Rassismus und Exotismus einig, müsse „der Orient“ vor seinen Reformern in Schutz genommen werden. Erfreut griffen gerade arabische Herrscher und Kleptokraten solche Denkstränge auf, etwa Saudi-Arabiens 2005 gestorbener König Fahd: „Das demokratische System, das auf der Welt vorherrscht, ist für unsere Region und unsere Bevölkerung nicht geeignet“, gab er im März 1992 kund. Verblüffenderweise weisen linke wie rechte Kulturalisten im Westen am meisten Übereinstimmung mit den Stimmen der herrschenden Eliten in der arabischen Welt auf.

Es müsse sich zuerst einmal eine Zivilgesellschaft entwickeln, ehe autoritär regierte Staaten reif seien für Demokratie – so erklang die Parole des Orientalismus zweiter Ordnung, der ab den 1990er Jahren Fuß fasste. Wie aber sollen die Elemente der Zivilgesellschaft – Bürgerrechtler, Bürgerinitiativen, Menschenrechtler – gedeihen, wenn Geheimpolizei und staatlicher Terror ihr Entstehen unmöglich machten? In solchem Kontext konnte schon der Übergang von Steinigung zu Erhängen als Fortschritt verkauft werden.

2008 führten westliche Experten eine Onlinedebatte an der Universität Harvard. Es ging um die Thesen des Ökonoms Charles Issawi (1916–2000) über den Mittleren Osten. Issawis 1956 formulierte Einsichten seien weitsichtig gewesen, staunten die Experten, und klängen überraschend aktuell. Voraussetzung jeglicher Demokratisierung der Region, hatte Issawi erklärt, sei eine grundlegende soziale und wirtschaftliche Transformation. Zu investieren sei daneben vor allem in Bildung. Einflussreiche Experten wie Jon Alterman, Leiter des Middle East Program am Center for Strategic and International Studies, erklärten dazu, Issawi habe recht behalten: Die autoritären Systeme hätten sich als bemerkenswert dauerhaft und anpassungsfähig erwiesen. Scott Carpenter vom Washington Institute merkte an, dass Bildung in der arabischen Welt keineswegs zu Demokratiestreben geführt habe, Tunesien zum Beispiel müsse dann doch – „right?“ – längst vorneweg sein, habe aber eines der repressivsten Systeme.

Die jungen Tunesier, Ägypter, Algerier, Libyer, Jemeniten, Libanesen oder Bahrainer, die heute im Begriff sind, mit der Demokratie ihre Gleichrangigkeit mit den Nachbarn in Europa einzufordern, haben sich um solch westliche Diskurse herzlich wenig gekümmert. Sie müssen weder auf Edward Said rekurrieren, noch sich gegen einen Autor wie Sarrazin wehren. Tag für Tag widerlegen sie vor aller Augen die Vorstellung, der „andere“ Charakter ihrer Bevölkerung prädestiniere diese zu einem Hang nach autoritären Strukturen. Sie verbrennen keine israelischen Flaggen und brüllen nicht nach mehr geistlich-islamischer Autorität. Längst hätte man sie hören können. Der aus Algerien stammende Cheb Khaled, nicht nur im Maghreb bekannt als bester Interpret der Raï-Musik, besang schon vor Jahren in „El Harba Wayn?“(Fliehen, aber wohin?) den Zorn auf das Regime: „Die Reichen leben in Schwelgerei, die Armen schuften sich zu Tode, die islamischen Scharlatane zeigen ihr wahres Gesicht.“

Sie wollen also jetzt Demokratie, im Nahen Osten, sogar in manchen Golfstaaten. Und Israel? Absolut. Israel muss die erste Sorge gelten, besonders in Deutschland. In der anfangs erwähnten ZDF-Sendung ging es noch einmal um den ägyptischen Stabilitätsgaranten Mubarak. Der Kairoer Hamed Abdel-Samad wies darauf hin, dass gerade das Regime Mubarak den Antisemitismus nicht aus Schulbüchern verbannt und stattdessen sogar geschürt habe. Außenamtschef Guido Westerwelle, ebenfalls zu Gast, schüttelte ungläubig schnaubend den Kopf. Ach was, war seine Geste. Es darf nicht wahr sein, dass die „Israel-Freunde“ unter den Despoten auch für das Übel mitverantwortlich sind, das sie zu bekämpfen vorgaben.

Jüngste Umfragen, in Auftrag gegeben vom Washington Institute for Near East Policy, sprechen jedenfalls nicht für ein homogen anti-israelisches Klima in Ägypten. Nur 15 Prozent der Befragten zeigten Sympathie für die Muslimbrüder, lediglich ein Prozent sähe deren Anführer gern als Präsident. 37 Prozent sprachen sich für den Erhalt des Friedensvertrags mit Israel aus, 27 Prozent waren dagegen. Lediglich fünf Prozent der Befragten glaubten, dass es zum Aufstand gekommen sei, weil ihre Regierung zu „pro-israelisch“ sei.

Längst sind im Neu-Orient wache Stimmen zu hören, etwa Abdulateef Al-Mulhim, der vor ein paar Tagen auf arabnews.com schrieb: „Seit meiner Kindheit höre ich von dieser unsichtbaren Sache, die israelische Verschwörung heißt. (…) Bis heute sehe ich Araber, die die Israelis für alles verantwortlich machen, für junge, arabische Drogenabhängige, für ihre eigene mangelhafte Bildung, die irakische Invasion Kuwaits, schlechte Straßen, Korruption, fehlende Demokratie, Arbeitslosigkeit, Nine Eleven, die Teilung des Sudan, die Aufstände in Tunesien und Ägypten. Ist Israel imstande, all das zu verursachen, dann sind entweder die Israelis Übermenschen oder wir genießen es einfach nur, andere für unsere Fehler zu beschuldigen.“

So einfach will es sich die junge Generation der Araber nicht mehr machen. Der Westen wird auf seinen Orient verzichten müssen, um den Dialog mit ihnen zu finden.

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