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Kontrapunkt: Was ist „sexuelle Vielfalt“?

Und wenn das geklärt ist: Soll sie bereits im Grundschulunterricht gelehrt werden? Berlins Senat sagt Ja. Malte Lehming meint, man kann auch anderer Ansicht sein.

Zur neudeutschen Leitkultur gehören die Mülltrennung, der Atomausstieg, die Verteidigung der öffentlich-rechtlichen Medien und der Kampf gegen jede Art von Diskriminierung. In Berlin fügt man seit zehn Jahren gern hinzu: Und das ist auch gut so.

Vom Karneval der Kulturen bis zum Christopher Street Day: Die kulturelle und sexuelle Vielfalt der Stadt wird präsentiert und zelebriert – und für sie wird bunt geworben. Erst seit 42 Jahren ist Homosexualität in Deutschland nicht mehr strafbar. Die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität ist durch das Antidiskriminierungsgesetz verboten worden. Die Homophobie indes ist noch längst nicht besiegt.

Was also liegt näher, als das Thema bereits in der Grundschule zu behandeln? Die Initiative des Senats dazu heißt: "Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt." Es geht darin um verschiedene Lebens- und Liebesentwürfe, die Normalität des "Anders-Sein", um Geschlechterrollen. Im Rahmen des Aufklärungsprojekts des Vereins "ABqueer" reden ehrenamtliche Mitarbeiter mit Grundschulkindern über lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Lebensweisen. Vorurteile sollen aufgebrochen, mit Klischees aufgeräumt werden.

Das Ideal, das vermittelt werden soll, ist klar – eine größtmögliche Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt. Was aber ist "sexuelle Vielfalt"? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Bei Hetero, Homo, Bi und Transgender ist die Sache relativ einfach. Und bei Polyamorie, Polygamie und Inzest? Wer der Ansicht ist, dass alle Formen von Sexualität, die erwachsene Menschen freiwillig miteinander praktizieren, zur tolerablen sexuellen Vielfalt gehören, muss diese drei Formen mit einbeziehen. Wer sie dagegen aus dem Curriculum ausschließen will, braucht gute Argumente.

Der bloße Hinweis auf Verbote oder gesellschaftliche Konventionen ist jedenfalls zu wenig. Kinder wollen das Konzept verstehen. Das Konzept muss also einleuchtend sein. Wer etwa das Inzestverbot mit einem höheren Risiko erbkranken Nachwuchses erklärt, muss auf die Frage gefasst sein, ob dann auch behinderte Menschen kein uneingeschränktes Recht auf Sexualität haben sollten.

Und weiter: Sind Liebe und Sexualität wirklich an Monogamie geknüpft? Nicht nur Muslime machen da andere Erfahrungen. Polyamoristen propagieren "offene, liebevolle, stabile sexuelle Beziehungen von mehr als zwei erwachsenen Menschen". Was spricht dagegen? 

Wenn aber nun das Konzept der zu tolerierenden sexuellen Vielfalt nicht abschließend geklärt werden kann, ist dann die Grundschule der richtige Ort, um es in seiner interpretatorisch dehnbaren Form zu vermitteln? Wer schützt die Kinder vor der Willkür der Vermittelnden?

Welche Rolle die Berliner Multikulturalität beim Thema "sexuelle Vielfalt" spielt, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Überdies stellt Berlins Multikulturalität an das Fach Sexualaufklärung (im weitesten Sinne) erhöhte Anforderungen. Mit weißen, (post)christlich erzogenen, aufgeklärten Bürgerkindern aus Zehlendorf redet es sich oft anders über Homosexualität als mit christlich-orthodoxen russischen oder muslimisch-türkischen Migrantenkindern aus Neukölln.

Eine Umfrage unter 1000 Berliner Gesamtschülern und Gymnasiasten im Alter von 14 bis 20 Jahren, die 2007 im Auftrag des Lesben- und Schwulenverbands durchgeführt und vom Bundesfamilienministerium finanziert worden war, kam zu einem alarmierenden Ergebnis. Zwei Drittel der türkischstämmigen Jugendlichen und die Hälfte der russischstämmigen Jugendlichen haben homophobe Ansichten, aber "nur" (was immer noch viel ist) 26 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund.

Die Ursachen der erhöhten migrantischen Homophobie sind vielfältig – urbane oder ländlich geprägte Herkunft, Maß der Integration, eigene Diskriminierungserfahrung, Religiosität. So ist es Konsens unter muslimischen Gelehrten, dass der Koran homosexuelle Handlungen als Sünde betrachtet und streng verbietet. Bis heute wird Homosexualität in Saudi-Arabien, Jemen und dem Iran mit dem Tode bestraft.

Interkulturelle Erziehung kann nun nicht einfach im Überstülpen der Leitkultur der Mehrheitsgesellschaft bestehen. Ihr Ziel ist auch die Bewahrung von Eigenständigkeit, das Aushalten von Widersprüchen, die Gleichberechtigung verschiedener Kulturen.

Hannah Arendt schrieb 1957 einen Aufsatz mit dem Titel "Little Rock". Darin ging es um die Frage, ob der Staat das Recht hat, mit der "Rassenintegration" in den öffentlichen Schulen zu beginnen, das heißt schwarze und weiße Kinder in so genannten integrierten Schulen zusammen zu unterrichten. Auch damals hieß es zur Begründung, das fördere die Toleranz.

Hannah Arendt war anderer Meinung. "Was die Kinder betrifft, so bedeutet erzwungene Integration für sie einen sehr ernsten Konflikt zwischen Zuhause und Schule, zwischen ihrem privaten und ihrem sozialen Leben, doch während solche Konflikte im Erwachsenenleben gang und gäbe sind, kann man von Kindern nicht erwarten, dass sie damit fertig werden, und sollte sie ihnen deshalb nicht aussetzen."

Wenn nun, um zur aktuellen Analogie zurückzukehren, die Akzeptanz sexueller Vielfalt in einer stark migrantisch geprägten Berliner Grundschule propagiert wird, könnten Kinder in ähnliche Konflikte gestürzt werden. Homosexualität ist gut, heißt es im Unterricht, Homosexualität ist Sünde, sagen die Eltern zu Hause. Womöglich reagieren diese Eltern auch noch drastischer, indem sie ihren Kindern einbläuen, nicht alles zu glauben, was in der Schule gelehrt wird. Das wiederum würde die Autorität der Lehrer untergraben und die Integrationsleistung von Schule auf anderen Gebieten erschweren.

Dazu noch einmal Hannah Arendt am Beispiel der Rassendiskriminierung: "Der Konflikt zwischen Zuhause, wo es Rassentrennung gibt, und der Schule, wo diese aufgehoben ist, zwischen dem Vorurteil der Familie und den Forderungen der Schule, beseitigt auf einen Streich sowohl die Autorität der Lehrer als auch die der Eltern."

Soll das Toleranzideal sexueller Vielfalt (was immer damit konkret gemeint sein mag) wirklich schon in der Grundschule vermittelt werden? Mit Blick auf die Multikulturalität in einer Stadt wie Berlin lässt sich diese Frage durchaus verneinen. Weil das indes der neudeutschen Leitkultur widerspräche, könnte ein solches Nein automatisch als weiteres Zeichen von Homophobie gewertet werden.

Auch Hannah Arendts Aufsatz zog heftige Kritik auf sich, weshalb sie sich zwei Jahre später zu einer "Erwiderung auf die Kritik" genötigt sah. Sie soll daher ausnahmsweise das letzte Wort haben: "Die Idee, dass man die Welt verändern kann, indem man die Kinder im Geist der Zukunft erzieht, gehört seit dem Altertum zu den Kennzeichen politischer Utopien. Das Missliche an dieser Idee ist immer dasselbe gewesen: Sie kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn die Kinder wirklich von ihren Eltern getrennt und in staatlichen Einrichtungen aufgezogen oder in der Schule indoktriniert werden so dass sie sich gegen ihre eigenen Eltern wenden. Eben das geschieht in tyrannischen Systemen."

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