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Die Türken können ihre Regierung abwählen, wenn sie ihnen nicht mehr passt.

© dpa

Demokratie: Ist die Türkei ein Modell für Arabien?

Die Türkei wird demokratisch und islamisch regiert. Nach wie vor hat die Demokratie in Ankara unübersehbare Schwächen - doch die Türken werden im Nahen Osten beneidet.

Nach den Volksaufständen in Tunesien und Ägypten richten sich viele Blicke auf die Türkei. Als westliche Demokratie mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit ist die Republik ein geostrategisch bedeutendes Versuchslabor mit mehr als 70 Millionen Menschen. Außerdem regiert in Ankara seit mehr als acht Jahren eine Regierung, die ein fromm-konservatives Kleinbürgertum repräsentiert. Könnte die Türkei des Recep Tayyip Erdogan ein Vorbild für den Nahen Osten sein?

Eine „Welle des Post-Islamismus“ rausche durch Nahost, sagt der türkische Intellektuelle Ihsan Dagi. Denn nicht islamistische Extremisten bestimmen die Tagesordnung. In keinem einzigen arabischen Land haben es islamische Fundamentalisten bisher vermocht, eine Regierung zu stürzen. Es waren bürgerliche Massenproteste, die seit Jahrzehnten regierende Herrscher innerhalb weniger Wochen zwangen, aus dem Land zu fliehen oder ihren Rückzug anzukündigen.

Auch Erdogan und seine Regierungspartei AKP verdanken ihren Aufstieg zur Macht der Unzufriedenheit breiter Wählerschichten mit den alten Verhältnissen. Die AKP kam im November 2002 per Protest an die Regierung, wenn auch über die Urne, nicht über die Straße. Und obwohl sie von den alten Eliten in Staat, Armee und Bürokratie misstrauisch beobachtet und zeitweise stark behindert wurde, nutzte die AKP ihre Chance. Inzwischen hat sie zwei Parlamentswahlen, eine Präsidentenwahl, zwei landesweite Kommunalwahlen und eine wichtige Volksabstimmung über eine Verfassungsreform souverän gewonnen. Das war möglich, weil Erdogan und andere sich schon vor dem Regierungsantritt von Hardlinern zu Pragmatikern gewandelt hatten. Dadurch wurde aus der AKP, die als Nachfolgeorganisation einer islamistischen Partei begann, eine breit aufgestellte Volkspartei, die für Islamisten, Bürgerliche, Nationalisten und Reformer wählbar ist.

In der Wirtschaft hielt sich Erdogan streng an die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds, setzte auf Privatisierungen und auf Marktöffnung. Mit der Folge, dass die Türkei heute eine Volkswirtschaft hat, die fast doppelt so groß ist wie die von Ägypten und Tunesien zusammen. Politisch suchte die AKP-Regierung die Nähe zur EU und leitete das größte demokratische Reformprogramm des Landes seit Jahrzehnten ein.

Mit den wirtschaftlichen und politischen Reformen marginalisierte Erdogan fast nebenbei auch den islamischen Extremismus. Laut Umfragen liegt die Zahl der Scharia-Anhänger in der Türkei heute bei drei Prozent und hat sich damit innerhalb weniger Jahre halbiert. Erdogan spricht von einer „lautlosen Revolution“ in seinem Land.

Nach wie vor hat die türkische Demokratie viele Defizite und unübersehbare Schwächen. Säkulare Kritiker beklagen, die türkische Gesellschaft werde immer religiöser. Auch Reformer sind inzwischen unzufrieden mit der AKP. Doch die Türken haben eine Möglichkeit, um die sie fast im ganzen Nahen Osten beneidet werden: Wenn Erdogan ihnen nicht mehr gefällt, können sie ihn abwählen.

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