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Proteste: Anti-Atom-Demonstration mit Ausstrahlung

War es nur eine Demonstration – oder ein buntes Fest? Hunderttausend Menschen kamen ins Regierungsviertel, um „Nein“ zu sagen – zu einer Politik, von der sie sich übergangen fühlen. Und vorübergehend war die FDP-Zentrale nicht wiederzuerkennen.

Immer mal wieder Sonne und immer wieder auch kräftiger Wind. Als wollten die Alternativenergiequellen selbst bei der Demonstration nicht fehlen, derentwegen am Sonnabend gut 150 Reisebusse vor allem im Westen des Landes in Bewegung gesetzt wurden, vor allem auch im Wendland, in Lüchow, Dannenberg, Gorleben.

Wer jetzt nicht demonstrieren gehe, der merke wohl nichts mehr, hat ein niedersächsischer Landwirt Reportern gesagt, bevor er seinen Trecker parkte und einstieg – Richtung Berlin.

Es geht gegen einen Atomkompromiss, den der seriöse Deutschlandfunk den „sogenannten“ nennt, der Umwelt-, Antiatom- und Naturschutzverbände sowie naturgemäß die Opposition zu schrillen Tönen des Protests treibt und viele Zehntausend Bürger auf die Straßen rund um das Regierungsviertel – die eben jene Befürchtung eint: dass da jemand nichts mehr merke.

„Ich bin zwar schon alt und grauhaarig“, sagt ein Herr, dem seine Frau gerade zärtlich einen Anti-Atom-Sticker auf den Jackenärmel zu kleben versucht, der nicht so recht halten will. Die Regierung sei vor der Atomlobby eingeknickt, findet er, das sei „Arschkriecherei“. Ein deftiges Wort, seine Frau guckt ein bisschen komisch. Er freue sich aber, sagt er noch, dass auch so viele Junge hier seien und der Protest viele politische Parteien vereine. Dann wird er weitergeschoben.

Es war ein gewaltiger Zug, der sich vom Berliner Hauptbahnhof erst nach Osten, dann zurück nach Westen, Richtung Regierungsviertel bewegte, das es zu umzingeln, zu belagern galt. Schon am Mittag flatterten über dem Gelände zwischen Hauptbahnhof und Spree die Fahnen. Besonders häufig zu sehen waren zum einen die Farbe Grün, die zu tragen die Grünen aufgerufen hatten, und überall immer wieder: die gelbe Fahne mit der roten Sonne und dem Schriftzug „Atomkraft? Nein Danke“ der Anti-Atomkraft-Bewegung der 80er Jahre. Wie damals sang auch am Sonnabend die niederländische Band Bots vom weichen Wasser, das den harten Stein breche und fragte „Was sollen wir trinken?“. Ältere Demonstranten mit grauen Haaren klatschen mit – begeistert von dem Schwung und zugleich deprimiert, immer noch mit demselben Anliegen unterwegs zu sein.

Passend zu den Fahnen gab es auch Anti-Atom-Sticker, diejenigen, die an der Jacke des alten Herrn nicht klebten, dafür aber umso besser an der FDP-Zentrale in der Reinhardtstraße, im Polizeijargon das erste „gefährdete Objekt“. Die Friedlichkeit der Atomgegner schien gesetzt, nur drei Schutzmänner stehen hier Wache und ziehen sich dezent zurück, als der erste Demonstrant mit revolutionärem Blick seinen rot-gelben Sticker auf eine Scheibe klebt. Aus dem einen werden zwei, drei, vier und dann eine Massenbewegung. Eine Stunde darauf ist das Hauptquartier der kleineren Regierungspartei unter tausenden Aufklebern der politischen Gegner verschwunden, und sogar die Beamten müssen sich gegenseitig die Sticker von ihren uniformierten Rücken pflücken.

Es waren so viele Menschen, die im Laufe des Nachmittags an ihnen vorbeizogen. 100 000, sagen die Veranstalter, mehrere große Umweltverbände. Könnte stimmen, sagt die Polizei. Etwas weniger also, als im April im Wendland zusammenkamen, um eine Menschenkette zu bilden, aber mehr als vor einem Jahr in Berlin: Da waren Bauern aus Niedersachsen mit mehr als 300 Traktoren vor dem Brandenburger Tor aufgefahren. Damals sprach die Polizei von 36 000 Teilnehmern.

Die Demonstranten wenden sich im Konkreten vor allem gegen die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre. Doch ihr „Nein“, ihr „So nicht“ gilt auch der schwarz-gelben Regierung im Allgemeinen. „Gegen das Sparpaket“ steht also auf einigen Plakaten, die aus dem Meer der roten Atomsonne auf gelbem Grund herausragen, oder: „Röttgen ist nur eine Marionette von Merkel“, „Westerwelle und Merkel sind atomare Ferkel“.

Es ist ein weiteres Mal, dass die Bürger „dagegen“ sind und damit nicht zu Hause bleiben, wie beim Protest gegen „Stuttgart 21“ oder dem Nein in Hamburg zur Schulreform. Und doch ist diese Anti- Atom-Demonstration eine andere. Sie hat Geschichte und ist schon fast ein Ruf aus der Vergangenheit. Viele Familien sind gleich mit zwei Generationen vertreten, manche mit drei. Die Alten, heute Eltern, gar Großeltern, waren schon bei den ersten Protesten gegen Atomkraft. Sie fühlen sich um die Ergebnisse ihres Protestes betrogen.

Das Ehepaar Maritha und Hans Maier aus Schwäbisch-Hall ist schon nachts um zwei aufgebrochen und trifft seine Tochter, die inzwischen in Freiburg wohnt, am Bahnhof. „Wir haben gehofft, es wäre vorbei, aber jetzt müssen wir noch mal ran“, sagt Maritha Maier und lächelt traurig. „Unsere Tochter wurde 1986 geboren, im Jahr von Tschernobyl. Dass sie sich heute immer noch gegen diese Technologie wehren muss, finde ich schlimm.“

Ihre Tochter Anna Maier steht ein wenig abseits und ist eines der Lieblingsmotive der Fotografen. Die auffallend hübsche junge Frau ist ganz in Gelb gekleidet, um den Kopf trägt sie einen Sonnenstrahlenkranz aus Pappe. Position zu beziehen, ist ihr wichtig – an ihrem Rucksack prangen auch „Go vegan“ und „gegen Tierversuche“-Buttons. Viele der jungen Demonstranten sind verkleidet, Demonstrieren soll auch Spaß machen. Dabei kommt mancher ganz zufällig zur Protestkultur: „Krasse Freaks hier“, sagt ein Jugendlicher, der sein Mountainbike neben sich herschiebt zu seinem Freund. „Aber irgendwie geil.“

Rund um ihre Schubkarre, in der symbolhaft Atommülldosen zwischenlagern, leere Konservernbüchsen, aufwendig umgestaltet mit Papier und Klebe, sitzen Sean Keller und seine Freunde aus der Nähe von Schweinfurt. Schüler sind sie, und nur für diesen Tag nach Berlin gekommen. Die weiterhin ungeklärte Frage, was mit dem Atommüll geschehen soll, das ist es, was sie beschäftigt, was sie anklagen. Zur schwarzgelben Wende in der Energiepolitik sagt Keller: „Die nennen das Revolution, aber das ist nicht revolutionär, das ist doch reaktionär.“

Die mitmarschierende Anti-Regierungsstimmung hat viele Oppositionsparteien angelockt. Doch die Parteiflaggen stoßen nicht immer auf Begeisterung: „Also ich mache ja fast alles mit, aber hinter dem SPD-Wagen herzulaufen, da weigere ich mich“, empört sich einer, als er von den Massen genau dorthin geschoben wird. „Merkels schmutziger Atomdeal“, „Kein Ausstieg aus dem Ausstieg“ postulierten die Grünen, die dem Kampf gegen die Atomkraft ihre Existenz verdanken, schon auf ihrer Homepage, Parteichefin Claudia Roth sprach am Rande der Demonstration dann noch von einem „Anschlag auf die Demokratie“. Auch einige Fahnenträger der Piratenpartei sind dabei. Die Männer in Schwarz, eine Frau mit hohen Stiefeln. Auffällig unbunt scheinen sie nicht so recht zu passen in die sonst bunte Protestlertruppe, aber auch ihre Partei hat klar Anti-Akw-Position bezogen Sachen Energiepolitik.

Der junge Vertreter des Ökostromkonzerns „Lichtblick“ macht das Geschäft seines Lebens. Er schiebt einen kleinen Handwagen vor sich her und geht die Leute direkt an: „Beziehen Sie eigentlich Atomstrom?“ Oft folgt ein verschämtes Nicken. Mit „Jetzt wechseln!“ beginnt sein Verkaufsgespräch mitten im Getöse. Auch ein Auto des Bundesverbands Windenergie fährt am Rande mit.

Dass überhaupt zwischen Reichstag und Kanzleramt demonstriert werden durfte, verdankt die Anti-Atom-Bewegung einem CDU-Politiker: Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages. Denn in der „Bannmeile“, dem befriedeten Bezirk um das Regierungsviertel, ist Demonstrieren verboten – zum Schutz des Parlaments. Doch gestern marschierten die Massen dort kreuz und quer herum. Nur die Wiese vor dem Reichstag war abgesperrt und wurde von der Polizei bewacht. Bis am Nachmittag auch diese Hürde fiel und Atomkraftgegner die Gitter niedertrampelten – wie auch das Grün dahinter.

Mitarbeit Jan Ludwig

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