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Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen

© Thilo Rückeis, Tagesspiegel

Cem Özdemir über Terror, Syrien, Flüchtlinge: "Es wird nicht jeder bleiben können"

Vor dem Parteitag: Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir über die Folgen der Terroranschläge in Paris, die Flüchtlingskrise - und über die Spitzenkandidaten seiner Partei bei der Bundestagswahl 2017.

Herr Özdemir, muss Deutschland nach den Anschlägen in Paris seine Flüchtlings- und Sicherheitspolitik überdenken?

Das Säen von Verunsicherung und Zwietracht ist Teil der terroristischen Strategie. Die Vermischung der Themen Terrorismus und Flucht ist schon deshalb völlig daneben. Die Menschen aus Syrien fliehen zu uns ja gerade vor genau diesem Terror, den Paris erleben musste. Allerdings muss endlich Ordnung in die Registrierung der Flüchtlinge gebracht werden. Momentan wissen wir ja nicht einmal, wie viele gekommen sind und wer im Land ist.

Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland verkraften?

Deutschland und alle anderen EU-Staaten müssen Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, Schutz gewähren. Ich verstehe auch, dass Menschen aus wirtschaftlicher Not und wegen mangelnder Perspektiven zu uns kommen wollen. Für sie brauchen wir Möglichkeiten der Arbeitsmigration über ein Einwanderungsgesetz. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch zu sagen, dass nicht alle bleiben können und Deutschland und Schweden nicht auf Dauer die Hauptaufnahmestaaten für Flüchtlinge in der EU sein können.

Ein erheblicher Teil der Deutschen sieht die Aufnahme weiterer Flüchtlinge skeptisch. Wie wollen Sie die überzeugen?

Wir Grüne sind die Stimme der Vernunft. Das Chaos in der großen Koalition verstärkt die Verunsicherung in der Bevölkerung. Machtkämpfe, wie sie gerade zwischen der Kanzlerin auf der einen und Innenminister de Maizière und Finanzminister Schäuble auf der anderen Seite ausgetragen werden, sind Gift für das gesellschaftliche Klima. Das ist unverantwortlich. Ich rufe die Regierung auf, ein breites Bündnis der Vernunft mit der Wirtschaft, den Gewerkschaften und den Kirchen zu schmieden. Die Grünen sind bereit, sich daran zu beteiligen. Es geht um die größte Herausforderung seit der deutschen Wiedervereinigung.

Wir erleben einen Herbst der Verrohung, nicht nur in der politischen Debatte. Inzwischen werden Flüchtlinge gezielt vom rechten Mob angegriffen. Was sagt das über den inneren Zustand des Landes?

Die offen zur Schau gestellte Aggressivität, die sich nicht mehr hinter dem Schutzmantel der Anonymität versteckt, hat eine neue Qualität. Mich erinnert das an die Zeit Anfang der 90er Jahre. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Eindruck entsteht, dass die Rechtsradikalen die Tagesordnung bestimmen. Das ist auch eine Bewährungsprobe für unsere Demokratie. Es darf da kein Vertun geben: Sowohl Rechtsradikale als auch radikale Islamisten sind Gegner der offenen Gesellschaft und damit unsere Feinde. Da erwarte ich Klarheit in Wort und Tat.

Die Krise treibt der AfD Wähler zu. Was wollen Sie tun, damit die Rechtspopulisten nicht in weitere Parlamente einziehen?

Die Politik muss beweisen, dass sie die Lage im Griff hat: Wir brauchen Ordnung im System. Dazu gehört natürlich auch, dass Asylverfahren endlich schneller abgearbeitet werden. Wichtig für die Akzeptanz ist aber auch, dass es nicht zu einer Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und denen kommt, die in unserer Gesellschaft benachteiligt sind, etwa wenn es um bezahlbare Wohnungen oder Arbeitsplätze geht. Jetzt zeigt sich, was in 10 Jahren Merkel versäumt worden ist. Wohnraum ist nicht erst knapp, seitdem die Flüchtlinge bei uns ankommen.

Tübingens grüner Bürgermeister Palmer wird von Parteifreunden in die Nähe der AfD gerückt, weil er den Zuzug begrenzen will. Ist er ein verkappter Rechtspopulist?

Natürlich nicht. Aber ich glaube, Palmers defätistischer Ton steht uns nicht gut an. Es ist nicht gerade motivierend für all die Ehrenamtlichen, die im Moment so viel leisten, wenn wir ihnen sagen, wir schaffen das nicht. Es ist bedauerlich, wenn Palmer mit unbedachten Facebook-Kommentaren seiner Mannschaft so weit enteilt, dass manchmal die Farbe des Trikots nicht mehr zu erkennen ist. Übrigens sage ich dies, weil ich, wie viele in der Partei, seine Arbeit vor Ort als Oberbürgermeister und seinen Sachverstand so schätze.

Kann Deutschland auch 2016 mehr als eine Million Schutzsuchende aufnehmen, ohne dass der innere Friede in Gefahr gerät?
Natürlich können wir die Last nicht alleine tragen, die anderen europäischen Länder müssen ebenfalls in die Verantwortung genommen werden. Klar ist aber auch: Wenn wir das Schengen-System mit seiner Bewegungsfreiheit in Europa aufrechterhalten wollen – und das müssen wir, wenn wir Europa nicht irreparabel beschädigen wollen – dann müssen die EU-Außengrenzen funktionieren. Wir können nicht weiter tatenlos zuschauen, wie Menschen im Mittelmeer ertrinken. Wir brauchen geregelte, sichere Zugänge nach Europa.

SPD-Chef Gabriel schlägt vor, Flüchtlinge in großen Kontingenten nach Deutschland zu holen. Einverstanden?
Guter Vorschlag. Jetzt muss Sigmar Gabriel zur Abwechslung aber auch mal an einem Vorschlag festhalten. Wir müssen auch mit der Türkei darüber reden, wie dort in den Flüchtlingslagern menschenwürdige und geordnete Verhältnisse geschaffen werden können und Kinder beispielsweise Schulen besuchen. Bei den jetzigen Zuständen ist es unvermeidlich, dass viele Menschen weiter nach Europa fliehen. Überhaupt müssen wir uns viel stärker mit der Frage beschäftigen, warum so viele Menschen auf der Flucht sind und welchen Anteil wir daran haben. Wir müssen aufhören, den Fischern in Westafrika ihre Meere leer zu fischen. Wir dürfen nicht länger mit Lebensmittelexporten die Märkte in Afrika kaputt machen. Wir brauchen verbindliche Klimaziele und Hilfen für die Länder, die vom Klimawandel bedroht sind. Und wir müssen alles daran setzen, den Krieg in Syrien endlich zu beenden und Afghanistan zu stabilisieren. Das alles wird nicht von heute auf morgen gehen, aber durch Warten wird nichts besser.

Ein möglicher Waffenstillstand in Syrien müsste von einer UN-Truppe abgesichert werden. Würden die Grünen eine Beteiligung der Bundeswehr unterstützen?
Natürlich muss auch die Bundeswehr helfen, einen solchen UN-Friedensprozess abzusichern. Meine Partei steht zur Schutzverantwortung unter dem Dach der Vereinten Nationen. Wir müssen der Bevölkerung aber klar sagen, dass er lange Zeit dauern kann. Das ist auch die Lehre aus Afghanistan. Die Alternativen heißen: Hohe Mauern um Europa oder dauerhaftes Engagement für eine friedlichere, gerechtere und grünere Welt.

Zählen bei den Grünen praktische Lösungen inzwischen mehr als Ideale?
Pragmatismus ist kein Schimpfwort und steht nicht im Gegensatz zu einem inneren Kompass. Es stimmt aber auch, dass wir Grüne uns ehrlich machen müssen. Dazu gehört auch der Satz, den wir auf dem Parteitag verabschieden wollen: Es wird nicht jeder bleiben können. Wenn wir das Grundrecht auf Asyl verteidigen wollen, müssen wir auch das klar sagen.

Wegen ihrer Zustimmung zum Asylkompromiss im Bundesrat müssen sich grüne Regierungsvertreter aus den Ländern Verrat vorwerfen lassen...

Der Vorwurf ist unangemessen. Es gehört zu einem Allparteienkompromiss, dass alle sich bewegen müssen. Für uns war das schmerzhaft, aber wir Grüne sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Nun muss die Regierung liefern.

Schließen Sie aus, dass die Grünen in einem halben Jahr einer Begrenzung des Familiennachzugs zustimmen?
Das ist doch eine Scheindebatte. Unsere Botschaften im Libanon, in Jordanien und der Türkei sind im Moment so überfordert, dass eine schnelle Abwicklung des Familiennachzugs sowieso nicht machbar ist. Grundsätzlich ist der Familiennachzug für die Grünen nicht verhandelbar. Wie soll denn die Integration des jungen Syrers hier in Deutschland gelingen, wenn seine Frau und seine Kinder in einem Flüchtlingslager in Jordanien bleiben müssen?

Sie sind der Sohn türkischer Gastarbeiter. Welche Fehler müssen vermieden werden, damit die Integration heute besser gelingt als bei der Generation Ihrer Eltern?
Damals ging man davon aus, dass die Leute nicht auf Dauer bleiben und deshalb auch keine richtigen Deutschkenntnisse brauchen. Das war ein Fehler. Für seine Arbeit am Fließband beherrschte mein Vater genug Deutsch. Aber er blieb Zeit seines Lebens Dreher. Er konnte sich nicht weiterbilden wie seine Kollegen, weil dafür die Sprachkenntnisse und die gezielte Förderung fehlten. Das müssen wir jetzt besser machen.

Welchen persönlichen Rat würden Sie den Neuankömmlingen geben?
Deutschland bietet unglaublich viele Chancen, die man nur ergreifen muss. Man braucht dabei aber auch Hilfe. In meinem Leben gab es die Eltern meiner deutschen Freunde, die mir bei den Hausaufgaben geholfen. Ich hätte sicher vieles nicht gelernt, wenn meine Eltern die einzigen Bezugspersonen gewesen wären.

Sie sind seit sieben Jahren Grünen-Chef. Brennen Sie noch wie am ersten Tag?
Ja, klar. Wenn ich unsere Regierungsvertreter aus den Ländern treffe, bin ich immer neidisch, was die alles umsetzen können. Ich will dafür sorgen, dass die Grünen nach der Bundestagswahl 2017 wieder in der Regierung sitzen.

Als Spitzenkandidat?
Ende 2017 ist die Bundestagswahl. Ende 2016 werden wir in einer Urwahl unser Spitzenduo bestimmen. Auf dem Parteitag in Halle trete ich erstmal wieder als Bundesvorsitzender an und aktuell haben wir alle wohl ganz andere Sorgen.

Katrin Göring-Eckardt, Anton Hofreiter und Robert Habeck haben Ihren Anspruch schon angemeldet. Fehlt Ihnen der Ehrgeiz?

Alles zu seiner Zeit. Aber mal ehrlich: fehlenden Ehrgeiz hat mir noch niemand vorgeworfen.

Mit welcher Machtperspektive wollen Sie die Grünen in die Wahl 2017 führen?

Mit einer Grünen, aber ohne Koalitionsaussage. Wir müssen erstmal sehen, wie sich 2017 das Parlament zusammensetzt. Als Grünen-Chef will ich dafür kämpfen, dass wir gestärkt in den Bundestag einziehen. Es gibt deutlich mehr Leute, die grün ticken, als uns beim letzten Mal gewählt haben. Die will ich überzeugen.

Cem Özdemir (49) ist seit 2008 Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Er war der erste Bundestagsabgeordnete mit türkischen Wurzeln.

Das Interview führten Cordula Eubel und Stephan Haselberger

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