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In Suape entsteht ein riesiger Transporthafen.

© Bernardo Gutiérrez

Präsidentschaftswahl: Der Gigant Brasilien ist aufgewacht

Brasilien wählt am Sonntag einen neuen Staatschef. Unter Präsident Lula hat sich das fünftgrößte Land der Welt neu erfunden.

Nach acht Jahren scheidet der beliebte Präsident Lula aus dem Amt. Lulas Heimatstaat Pernambuco steht dabei exemplarisch für die Herausforderungen und Widersprüche der aufstrebenden Nation. Auf der einen Seite ungerechte Landverteilung und Umweltzerstörung; auf der anderen funktionierende Sozialprogramme und der Aufbau einer Industrie. Der Tagesspiegel hat Pernambuco von der Lehmhütte, in der Lula geboren, bis zum größten Exporthafen des Landes bereist.

Brasilien ist eine Lehmhütte. Ein Fenster, eine Tür, Holzbalken, zwischen denen die Erde zerbröselt. "Hier wurde Lula geboren, der wichtigste Führer der Welt." Marlos Duarte spricht andächtig, wie von einem Heiligen. Dann deutet der 58-Jährige mit dem grauen Bart zu der Stelle, wo Lindú, die Mutter Lulas, mit ihren vier Kindern einen Minibus bestieg, um fern von hier ein neues Leben zu beginnen. Das war 1952, Lula sieben Jahre alt und der Nordosten Brasiliens mit den Worten des Schriftstellers Eduardo Galeano die "elendigste Region der westlichen Hemisphäre". Die Reise dauerte 13 Tage und führte Lindú und den zukünftigen Präsidenten Brasiliens, in ein Armenviertel im 2500 Kilometer entfernten São Paulo.

Genau 50 Jahre wählten die Brasilianer denselben Luiz Inácio Lula da Silva zu ihrem Präsidenten. Aus Dankbarkeit kam er zurück nach Caetés, und als er vor seiner Geburtshütte stand, begann er zu weinen. "Lula ist einer von uns", sagt Marlos Duarte. Wie die meisten Brasilianer würde auch er den 65-JÄhrigen am liebsten wiederwählen, wenn an diesem Sonntag einen neuer Präsident bestimmt wird. Doch die Verfassung verbietet es Lula, ein drittes Mal anzutreten. Deswegen wird wohl Lulas Stabschefin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei die erste Runde der Wahlen gewinnen. Lula rührt für sie in väterlicher Manier die Werbertrommel.

Wie kein Politiker vor ihm hat Lula Brasilien in den vergangenen acht Jahren verändert. Manche sagen: Er hat Brasilien neu erfunden. Das Land mit seinen 200 Millionen Einwohnern zählt heute zu den Nationen, die das 21. Jahrhundert prägen werden. Politisch, kulturell, ökonomisch. Durch die globale Finanzkrise ist Brasilien so unbeschadet geglitten, als ob es auf einem anderen Planeten läge. Ja, noch in der Krise entstanden 1,7 Millionen der insgesamt 14 Millionen neuen Arbeitsplätze der Ära Lula. Für dieses Jahr erwartet man Wachstumsraten von mehr als sieben Prozent. Brasilien erwirtschaftet erdrückende Exportüberschüsse und hat mit dem Real eine stabile Währung.

In Caetés, dem Geburtsort von Präsident Lula da Silva, profitieren die Armen von den großzügigen Sozialprogrammen der Regierung.
In Caetés, dem Geburtsort von Präsident Lula da Silva, profitieren die Armen von den großzügigen Sozialprogrammen der Regierung.

© Bernardo Gutiérrez

Die ökonomische Macht übersetzt sich in politische Ansprüche. Das fünftgrößte Land der Welt fordert einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und wird als internationaler Makler geschätzt. Lula versteht sich ebenso gut mit US-Präsident Barack Obama wie mit dessen sozialistischem Gegenspieler Hugo Chávez aus Venezuela. Wenn Lula das "irrationale Verhalten weißer Leute mit blauen Augen" für die Finanzkrise verantwortlich macht, kann er mit der Zustimmung von drei Vierteln der Menschheit rechnen. Zugleich weiß er, dass die "Leute mit den blauen Augen" sich nicht mit ihm, dem "Champion im Kampf gegen Hunger", anlegen werden. Den Titel hat ihm die Uno verliehen.

Als "Planet Lula" wird die neue Weltordnung beschrieben, in der nicht mehr der Westen, sondern die Schwellenländer aus dem Süden und Osten den Ton angeben. Es ist daher auch kein Zufall, dass Brasilien die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 ausrichten wird. Das US-Magazin "Time" hat Lula schon als die "einflussreichste Person der Welt" beschrieben.

Lula, so scheint es, hat dem ewigen "Land der Zukunft" (Stefan Zweig) endlich das Tor zur Zukunft aufgestoßen. Er hat den "schlafenden Giganten" Brasilien geweckt.

Wie er das gemacht hat, ist im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco zu beobachten, wo Lula vor 65 Jahren geboren wurde. Rund um sein Heimatdorf Caetés lebten einst Kleinbauern vom Kaffeeanbau. Dann wurde die Kaffeeindustrie von der Militärdiktatur (1964-1985) in den Südosten des Landes verlegt, und in Pernambuco rissen sich Großgrundbesitzer das Land der verarmten Kleinbauern unter den Nagel. Die Region wurde zum Synonym für Hunger, Elend und moderne Sklaverei. Und heute? Berichtet Marlos Duarte von der Elektrizität, die alle Haushalte dank des Regierungsprogramms "Luz para todos" (Licht für alle) erreicht. Und von der Milchwirtschaft, auf die man jetzt setze. Duarte selbst koordiniert im Regierungsauftrag das Programm "Voller Einkaufskorb" und berät vier kleine Molkereien. So wie die von Pedro de Noronha, der einen Hof außerhalb von Caetés führt. Mit Duartes Hilfe arbeitet der 23-Jährige mit einem Computerprogramm, das von der Regierung entwickelt wurde, um Agrarbetrieben den Vertrieb zu erleichtern. "Wir wollen", betont Duarte, "dass Leute wie Pedro in Caetés bleiben und nicht in den Favelas von Recife oder Rio landen."

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Unweit von Pedro de Noronhas Finca leuchten Hunderte weiße Häuser in der Nachmittagssonne. Sie sind quadratisch, stehen in Reih und Glied. "Fällt was auf?", fragt Durte. "Normalerweise leben Brasiliens Arme in improvisierten Bauten aus Backstein und Wellblech. Diese hier sind verputzt und haben Dachziegel." Den Wohnkomplex mit 800 Einheiten hat die Regierung bauen lassen und den Ärmsten überlassen. In einem der Häuser lebt Janette Maria Becerra. Die alleinerziehende Mutter zeigt ihr bescheidenes Heim wie einen Palast: zwei Schlafzimmer, Küche, ein winziges Wohnzimmer. "Es sind nur 40 Quadratmeter", sagt die junge Frau, "aber vorher hatten wir nichts. Es ist wie ein Geschenk Gottes". Die Einheimischen nennen die Siedlung "Lulas Häuser".

Auf dem Bürgersteig vor der Schule von Caetés beugen sich Bianca, Daniela und Elsa über ihre Minilaptops. Die Computer haben die Kusinen durch das Regierungsprogramm "Ein Schüler, ein Computer" erhalten. Die Rechner laufen mit einer offenen Software, die ebenfalls die Regierung entwickeln ließ, um nicht von internationalen Softwarekonzernen abhängig zu sein. Das drahtlose Netz beziehen die Zwölfjährigen aus ihrem Schulgebäude. "Wir haben jetzt Freunde in Rio", sagt Elsa.

"Tja", meint Marlos Duarte, "muss ja wirken, als ob hier alles vorbereitet wurde, damit Lula gut aussieht". Dabei ist Duarte selbst der beste Beweis für den großen Sprung, den Brasilien gemacht hat. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich ein neues Auto geleistet, einen Fiat Siena. Und er geht im Supermarkt einkaufen, wo die Regale mit Käse, Fleisch und chilenischem Wein vollgestopft sind. "Vor zehn Jahren waren die Straßen von Caetés voller Bettler" sagt Duarte. "Aber ,Bolsa Familia' änderte alles."

"Bolsa Familia" lässt sich am besten mit Familienstipendium übersetzen. Es ist Teil von Lulas erfolgreichstem Programm "Fome Zero" (Null Hunger). Die Idee: Die Ärmsten kriegen Geld von der Regierung, wenn sie ihre Kinder in die Schule und zum Arzt schicken. So kommt Geld in Umlauf, und die Kinder haben die Chance, sich durch Bildung einmal selbst aus der Armut zu befreien. Experten aus der ganzen Welt reisen nach Brasilien, um sich "Bolsa Familia" erklären zu lassen.

Ein Konzept wird klar: Die Regierung Lula investiert in die Bevölkerung, weil sie ihr vertraut. Und weil sie begriffen hat, dass es viel teurer wäre, das Land mit der ungerechtesten Wohlstandsverteilung der Welt zu bleiben. Doch wo kommen die Riesensummen her?

Bis zum Horizont stehen die sattgrünen Sojapflanzen. Die Bohnen werden vor allem ins Ausland verkauft, wo sie an Masttiere verfüttert werden. 70 Millionen Tonnen waren es zuletzt, womit sich der Soja-Export Brasiliens seit 2000 verdoppelt hat, zwei Drittel gehen nach China. Aber nicht alle halten das für einen Erfolg.

João Pedro Stédile ist der Chef der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Er hat erschreckende Daten vorbereitet. 46911 Großgrundbesitzer (also ein Prozent der Bauern) kontrollieren 98 Millionen Hektar Land, fast 50 Prozent des Bodens. Sie versprühen weltweit die meisten Pestizide, außerdem weist Brasilien die zweitgrößte Fläche mit genetisch manipulierten Pflanzen auf. Aber das drängenste Problem sei die Gewalt: "Allein 2010 hat es schon 194 Landkonflikte im Nordosten gegeben", sagt Stédile. Erst vor wenigen Tagen seien Großgrundbesitzer auf das Land der Xucurú-Indianer vorgedrungen, um Soja zu pflanzen oder Rinder weiden zu lassen. "Und die Zentralregierung in Brasilia lässt sie gewähren." Tatsächlich ist die Landreform die große Leerstelle von Lulas Regierung. Den Agrarkonzernen hat sie im Jahr 2010 so viele Subventionen gewährt, wie allen brasilianischen Kleinbauern in acht Jahren zusammen. Dabei beschäftigen die Kleinbetriebe mehr als 14 Millionen Menschen, während die Großbauern nur 420000 Personen Arbeit geben. Aber Lulas Logik heißt: Klotzen statt Kleckern. Dabei bleiben landlose Kleinbauern, Ureinwohner und die Natur auf der Strecke. Erst im August gab die Regierung grünes Licht für den Bau des drittgrößten Wasserkraftwerks der Welt im Amazonasgebiet.

Brasilien ist ein Exporthafen: 14000 Hektar, 41 Kilometer Schienen, 90 Unternehmen, Investitionen von 1,7 Milliarden US-Dollar, Kräne, Eisen, Stahl, Schweiß. Und Arbeiter wie José Silva. Der 29-Jährige mit den indigenen Zügen hat vor ein paar Jahren noch auf einem Zuckerrohrfeld gestanden und für 400 Euro im Monat unter brennender Sonne Stauden geschnitten. Heute brennt er für 860 Euro im Monat Ziegel im Industrie- und Hafenkomplex Suape an der Küste Pernambucos. Nächstes Jahr wird hier die Erdölraffinerie Abreu y Lima fertig gestellt, die Lula gemeinsam mit Hugo Chávez finanziert hat. Die Baustelle ist bereits jetzt umgeben von Petrochemie- und Textilfabriken, Getreidemühlen und Rum-Destillerien. An den Hafenkais liegen Containerschiffe und man hört das dumpfe Hämmern aus der Schiffswerft Atlántico Sur. Sie wird einmal die größte Werft Lateinamerikas sein, mit 30000 Arbeitern. Erstmals in seiner Geschichte hat Brasilien hier schon ein Cargo-Schiff der Suezmax-Klasse gebaut.

Beim Gang entlang der Container, die sich im Hafen stapeln ,versteht man eine weitere Erfolgsformel Brasiliens: Diversifizierter Export. Früchte für Europa, Tische für China, Granit für Afrika. Früher gingen 26 Prozent der Waren in die USA. Heute sind es weniger als zehn Prozent. Dafür landen jetzt 14 Prozent in China. So funktioniert der Planet Lula.

Brasilien ist auch eine Software. Sie heißt Ginga. Der Begriff bezeichnet eigentlich den Schwung von Samba-Tänzern und Capoeira-Kämpfern. Aber bald wird man mit Ginga auf dem Handy ohne Internetzugang fernsehen können. Das Programm wurde im Zentrum zur Erforschung Fortgeschrittener Systeme (CESAR) in Recife, der Hauptstadt Pernambucos entwickelt. Jorge Cavalcanti leitet das IT-Labor, das einst von einigen jungen Akademikern mit staatlicher Hilfe gegründet wurde. "Wir verhindern, dass die guten Leute abwandern", sagt Cavalcanti. "Lula arbeitet hart für Brasilien. Aber das tun wir auch."

(Übersetzung und Mitarbeit: Philipp Lichterbeck)

Bernardo Gutiérrez

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