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Maiziere

© Mike Wolff

Interview: "Es entsteht immer dieses Schwarz-Weiß"

Lothar de Maizière über die Faust in der Tasche, schwieriges Erinnern an die DDR und Schostakowitsch.

2009 jähren sich zum 20. Mal der Mauerfall und der Beginn der friedlichen Revolution in der DDR. Die Erinnerungen an die DDR werden übermächtig auf uns hereinbrechen. Sind wir dafür gerüstet?

Es sind eigentlich drei Daten: 60 Jahre Bundesrepublik, in denen 40 Jahre DDR enthalten sind, und obendrein 20 Jahre Mauerfall. Bei der Erinnerungskultur, so fürchte ich, wird fast nur 60 Jahre Bundesrepublik vorkommen.

Haben wir ein Erinnerungsdefizit, was die DDR-Zeit anbelangt?

Mit dem Erinnern ist das so eine Sache. In meiner letzten Rede vor der Volkskammer 1990 habe ich Nietzsche zitiert, der sinngemäß gesagt hat: Man muss erst eine Stadt verlassen haben, um zu sehen, wie hoch die Türme sind, die sich über sie erheben. Das habe ich damals sicherlich ganz positiv gemeint. Der Umkehrschluss ist natürlich auch: Was in den Niederungen um die Türme herum ist, sieht man nicht mehr genau, das verschwindet und wird diffus.

Was sind für Sie die Niederungen?

Die Alltagsdinge, die einen beschwerten, sind nicht mehr präsent: Dass man 20 Jahre auf eine Wohnung wartete - ich hatte seit 1980 eine Dringlichkeitsbescheinigung, weil ich mit drei Kindern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung wohnte. Oder dass alle drei Kinder meiner Schwester, die Pastorin war, nicht zur Erweiterten Oberschule gehen durften. All diese Dinge geraten in Vergessenheit, weil es wohl auch in der Natur des Menschen liegt, sich an die positiven Dinge erinnern zu wollen und die negativen zu verdrängen.

Was sind die positiven, erinnerungswerten Dinge?

Das ist eben so schwer zu vermitteln: dass es auch normales Leben im unnormalen gegeben hat. Es gab die gleiche Freude auf den Sommerurlaub, der zwar nicht auf Mallorca, sondern vielleicht an den märkischen Seen verbracht wurde. Auch das konnte glücklich machen. Man hatte sich eingerichtet in den Beschränkungen.

Solcherlei Erinnern führt sehr leicht in die undifferenzierte Nostalgie, die derzeit so häufig beklagt wird …

Das liegt zum einen daran, dass wir nach der Wende eine ebenso undifferenzierte Verneinung all dessen gehabt haben, was die DDR ausmachte. Als Trotzreaktion darauf gibt es jetzt weithin eine ebenso undifferenzierte Verklärung. Ich glaube, dass die tragende Ideologie der DDR die Seelen der Menschen viel tiefer erreicht hat als wir uns das vorgestellt haben.

Sie meinen die Verheißungen des Kommunismus?

Die Ideologie versprach ja, dass die Gesellschaft irgendwann einen Zustand der Glückseligkeit erreicht - das kommunistische Fernziel: allen nach ihren Bedürfnissen und so weiter. Und sie vermittelte, dass es einen geschichtlich vorgeschriebenen, gesetzmäßigen Weg dorthin gebe. Irgendwann haben die Menschen gemerkt, dass sie mit Honecker und Co. nicht hinkommen. Aber sie haben dieses Ziel nicht aus den Augen verloren und haben gedacht, nun erreichen sie es mit Helmut Kohl: "Lieber Helmut, nimm uns an die Hand, führ uns in das Wirtschaftswunderland."

Man könnte meinen, die Menschen hätten zweierlei DDR erlebt: Die einen beklagen, die Erinnerung werde nur auf die Stasi reduziert, die anderen sagen, Erinnerung werde völlig zu Unrecht verklärt. Wer hat Recht?

Wahrscheinlich sind beide Ansichten nicht ganz falsch. Ein Teil der Bürgerrechtler meint, die Deutungshoheit über die DDR errungen zu haben. Sicherlich, keiner kann die Stasi in der Erinnerung ausklammern. Aber manchmal gewinnt man den Eindruck, dass sie heute gegenwärtiger ist als zur Zeit ihrer Existenz. Selbst mit der Stasi hatte man sich eingerichtet: Man wusste beim Telefonieren, dass jemand mit an der Strippe hing, man machte sogar seine Witze darüber. 1989 wäre früher geschehen, wenn die Menschen nur unter der Knute gelebt hätten. Das Leben funktionierte trotz all dieser Widrigkeiten.

Es fehlen also die Zwischentöne in der Bewertung dessen, was die DDR ausgemacht hat?

Es entsteht immer dieses Schwarz- Weiß-Schema. Es gab in der DDR vielleicht zwei Prozent Opfer und vielleicht drei Prozent Täter. Und 95 Prozent waren Volk. Die wollten auch gar nichts anderes sein, wollten für sich und ihre Familie das Beste aus ihrem Leben machen. Im Nachhinein aber wird die DDR-Bevölkerung eingeteilt in Täter und Opfer. Nun müssen die Leute alle sehen, wie sie auf das Opfer-Ufer kommen, weil sie sonst alle zu den Tätern gerechnet werden. Sie müssen ihre Widerstandsgeschichten erzählen und wie oft sie die Faust in der Hosentasche geballt haben. Aber sie waren weder das eine noch das andere.

Ist es nicht geradezu staunenswert, dass die DDR so lange bestanden hat?

Richtig. Und das aber auch vor einem anderen Hintergrund: Ich bin manchmal ärgerlich, wenn gesagt wird, die DDR sei ein einziger Schrotthaufen gewesen. Die Menschen haben nach dem Krieg eine unglaubliche Aufbauleistung erbracht, und zwar ohne Marshallplan und bei gleichzeitiger Demontage und bei gleichzeitigen Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Und weil die Reparationen nicht aus der Substanz genommen werden konnten, weil die schon weg war, sind bis Mitte der 50er Jahre 22 Prozent der laufenden Produktion allein für Reparationen bezahlt worden. Bis zum Schluss bekamen wir für die Hochseeschiffe, die die russische Fischfangflotte ausmachten, nur 66 Prozent unserer Kosten gezahlt. Die Differenz bekamen die Werften aus dem Staatshaushalt als sogenannte Exportstützung. Insofern ist schon erstaunlich, wie die DDR die Ausplünderung durch den großen Bruder Sowjetunion verkraftet hat. Aber die DDR-Funktionäre wussten seit dem 17. Juni 1953, dass ihre Macht nur den russischen Bajonetten zu verdanken war.

Einer dieser höchst anstößigen Sätze lautet: Es war doch nicht alles schlecht. Dabei ist er ja eigentlich völlig richtig.

Aber den Satz habe ich schon in meiner Jugend gehört. Und da war dann die Autobahn gemeint, die Hitler gebaut hatte. Dieser Satz ist besetzt durch das, was die Generation vor uns über die zwölf Jahre NS-Herrschaft zu sagen hatte. Natürlich: Wenn man heute sagt, jeder Bäcker, der morgens um drei oder halb vier aufgestanden ist, um pünktlich Brot zu liefern, oder jeder Chirurg, der an seinem Operationstisch gestanden hat, war eine Stütze des Systems, dann ist das objektiv vielleicht richtig, ignoriert aber die Lebensleistung dieser Menschen.

Wo fühlen Sie sich missverstanden, wenn nicht gar verletzt durch das westdeutsche Verständnis von ostdeutschen Biografien?

Ein Großteil der Westdeutschen nimmt den Ostdeutschen übel, dass sich ihr westdeutsches Leben verändert hat, ohne zu erkennen, dass es sich durch die Globalisierung ohne die deutsche Wiedervereinigung genauso verändert hätte. Man hatte sich in dieser Bundesrepublik so herrlich eingerichtet, und nun passierte ein Ereignis, das zwar dreimal im Jahr - zum 17. Juni, bei der Weihnachts- und bei der Neujahrsansprache - besungen wurde, aber ansonsten schon ad acta gelegt war. Nun wurde allen eine Kraftanstrengung abverlangt. Es war ein großer Fehler, dass wir es 1990 nicht fertigtgebracht haben zu sagen: Jetzt stehen wir noch einmal vor einer ganz großen nationalen Herausforderung.

Aber wo fühlen Sie sich gekränkt?

Wenn mir jemand aus dem Westen meine Biografie erklären will. Zum Beispiel wenn es heißt, wir hätten unsere Kinder zu früh auf den Topf gesetzt und in der Kinderkrippe abgeladen - obwohl wir alles in unseren Kräften Stehende getan haben, um unsere Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen. Von meinen drei Kindern hat nicht eines gekifft, alle drei haben eine Ausbildung gemacht, stehen ihren Mann im Beruf. Aber natürlich gab es gravierende Defizite. Ich erinnere mich an einen Ausflug mit der Schulklasse meiner zweiten Tochter nach Dresden, an dem ich als Erziehungsberechtigter teilnahm. Ein Teil der Klasse ging ins Verkehrsmuseum, ich mit dem anderen zu den Alten Meistern. Ich bin fast verzweifelt – die Schüler standen vor allen Bildern wie der Ochse vorm neuen Tor. Sie kannten weder die griechische noch die christliche Mythologie. Das ist das, was ich Frau Honecker vor allem vorwerfe: dass sie zwei oder drei Generationen von den klassischen Bildungswerten des Abendlandes abgeschnitten hat.

In anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks scheint man dieses Gefühl des entwerteten Lebens so nicht zu haben.

Ich war vor drei oder vier Jahren bei einem Freund und Rechtsanwaltskollegen in Prag. Dem sagte ich, dass ich den Eindruck hätte, die Menschen auf den Straßen wären dort fröhlicher und zufriedener als in Berlin. Warum ist das so? Er sagte: Erstens vergleichen wir mit früher, ihr vergleicht immer noch mit dem Westen, und zweitens: Wir verändern uns, ihr seid geändert worden.

Viele Ostdeutsche haben das Gefühl, in diesem System nicht die Rolle zu spielen, als wäre man im Westen groß geworden …

Der Westdeutsche hatte 40 Jahre lang Gelegenheit zur Vermögensbildung, die der Ostdeutsche nicht hatte. Eine Statistik der Bundesbank besagt, dass der Vermögensbestand einer Familie West noch immer dreieinhalbmal so hoch wie der einer Familie Ost ist. Fast jeder westdeutsche Pensionär hat neben seinem Altersbezug Aktien, Sparguthaben oder braucht keine Miete mehr zu bezahlen, weil er eine Eigentumswohnung hat. 94 Prozent des deutschen Erbschaftssteueraufkommens werden in westdeutschen Ländern geleistet, nur sechs Prozent im Osten.

Die Schauspielerin Katharina Thalbach hat jetzt gesagt, sie sei froh, dieses Experiment in der DDR mitgemacht zu haben, schließlich sei der Kapitalismus kein Naturgesetz. Können Sie das nachvollziehen?

Der Kapitalismus hat ja nie von sich behauptet, dass er ein Naturgesetz sei. Vielmehr haben die anderen gesagt, dass sie im Besitz der allein selig machenden Wahrheit seien. In diesem Sinne war der Kommunismus eine Erziehungsdiktatur. Zumindest hat sich dieses System, in dem wir jetzt leben, als korrekturfähiger erwiesen als jedes andere, das wir bisher hatten. Ob das die letzte Antwort der Geschichte ist, weiß ich auch nicht. Aber das, was gewesen ist, als Experiment zu bezeichnen, ist mit meinem Verständnis von Würde nicht vereinbar. Mit 17 Millionen Menschen macht man kein Experiment. Es bagatellisiert das, was ja nicht als zeitlich begrenztes Experiment, sondern als Verheißung für die Ewigkeit angelegt war.

Was ist das für eine Art DDR, die mit Angela Merkel ins höchste Regierungsamt der Bundesrepublik gekommen ist?

Ich glaube, bei Angela Merkel ist es zum einen die naturwissenschaftliche Art ihres Denkens. Sie ist in formaler Logik kaum zu schlagen. Sie hat mit dieser ganz anderen Art zu denken einen neuen Stil in die Politik eingebracht. Manche Politiker können Ursache und begünstigende Bedingungen nicht auseinanderhalten, das würde ihr nie passieren.

Könnte Angela Merkel in ihrem Amt mehr tun für das Verständnis zwischen Ost und West?

Ich habe sie vor ein paar Jahren mal verärgert, als ich gesagt habe, sie wäre keine ostdeutsche Politikerin mehr, sondern eine westdeutsche. Ich glaube, sie versucht, eine gesamtdeutsche Politikerin zu sein und die Arbeitslosigkeit im Ruhrpott genauso zu sehen wie die in der Lausitz. Aber was wirklich wichtig ist: Das geteilte Deutschland war außenpolitisch nicht erwachsen. Die Politik hat jetzt erkannt, dass wir eine Drehscheibenfunktion in der Mitte Europas haben mit Blick auf Osteuropa und bei gleichzeitiger Bewahrung der Westbindung. Dafür hat sie ein gutes Händchen.

Hat das mit ihrer DDR-Sozialisation zu tun?

Eher wohl mit Vernunft und damit, dass sie nicht in alten Denkstrukturen eingebunden ist. Der Westen ist ganz selbstverständlich stark geprägt durch den franko-iberischen Kulturraum und den deutschsprachigen Kulturraum. Der slawische Kulturraum wurde fast ausgeblendet, er gehörte im Gegensatz zu uns nicht zur Lebenswirklichkeit. Und darum glaube ich, dass noch heute die ostdeutschen Orchester eine Schostakowitsch-Sinfonie besser spielen als die westdeutschen. Ich begreife diese unterschiedlichen Lebenserfahrungen als Chance.

Was wird im geschichtlichen Kontinuum bleiben von dem, was DDR war?

Dass die Ostdeutschen in dieser Situation, in der sie leben mussten, in der ganz überwiegenden Zahl ihre Würde behalten haben – in dem Maße, wie das System es ihnen erlaubte.

Mit Lothar de Maizière sprachen Hermann Rudolph und Matthias Schlegel.


ZUR PERSON

DIE MUSIK

Der 1940 in Nordhausen geborene Nachfahre hugenottischer Einwanderer studierte Musik und spielte in mehreren Orchestern. Er studierte dann Rechtswissenschaften und arbeitete seit 1975 als Rechtsanwalt.

DIE POLITIK

1989 zum Vorsitzenden der Ost-CDU gewählt, wurde er als Spitzenkandidat der „Allianz für Deutschland“, die die rasche Einheit anstrebte, am 12. April 1990 letzter DDR-Ministerpräsident.

DER RÜCKZUG

Am 3. Oktober 1990 zum Bundesminister für besondere Aufgaben ernannt, trat er wegen Stasi-Vorwürfen im Dezember wieder zurück. Er arbeitet heute wieder als Rechtsanwalt in Berlin.

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