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Leyen_Kaessmann

© Mike Wolff

Leyen-Käßmann-Interview: "Holzschnittartig und gefährlich"

Arbeitsminsterin Ursula von der Leyen (CDU) und Bischöfin Margot Käßmann über Armut in Deutschland und Guido Westerwelles Sozialstaatsdebatte.

Frau Käßmann, in der katholischen Kirche gilt Neid als eine der sieben Todsünden. Ist die aktuelle Diskussion um Hartz mehr als eine Neiddebatte?



KÄSSMANN: In der evangelischen Kirche würden wir nicht von Todsünden sprechen. Aber Neid ist ganz gewiss keine positive menschliche Eigenschaft, das weiß schon die Bibel. Ich finde es traurig, wie derzeit über die Menschen in diesem Land geredet wird, die auf Hartz IV angewiesen sind. Die Starken in der Gesellschaft sollten dankbar sein, dass sie die Kraft haben, zu geben. Denn es ist wesentlich schwerer zu nehmen als zu geben. Für viele ist es beschämend, darauf angewiesen zu sein, dass andere ihnen zum Leben helfen.

Frau von der Leyen, haben Sie die Debatte der vergangenen Tage als hilfreich empfunden oder als beschämend?

LEYEN: Mir war die Debatte zu holzschnittartig. Die pauschalen Vorwürfe führen nicht weiter. Langzeitarbeitslosigkeit ist unser gemeinsames Problem, das wir auch gemeinsam lösen müssen. Die Mehrzahl der Menschen in Hartz IV will da raus.

FDP-Chef Guido Westerwelle hat von „spätrömischer Dekadenz“ und „anstrengungslosem Wohlstand“ gesprochen. Muss eine Partei mit „C“ im Namen nicht massiver dagegenhalten, wenn Hartz-IV-Empfänger so verunglimpft werden?

LEYEN: Das römische Schlachtgetümmel sollte ein Ende haben. Mir ist wichtig, dass wir wieder über das reden, was das Bundesverfassungsgericht uns aufgetragen hat: Was ist das Existenzminimum, damit ein Mensch in Würde leben kann? Das ist auch Thema des Europäischen Jahres gegen Armut und Soziale Ausgrenzung. Es geht nicht allein um körperliches Wohl, sondern auch um Teilhabe. Für mich hat das Urteil vor allem eines deutlich gemacht: Wir setzen uns nicht zielgerichtet genug für die Bildung bedürftiger Kinder ein. Diese Kinder brauchen nicht nur eine Schule, die da steht, sondern sie brauchen auch konkrete Hilfe, wenn sie nicht mitkommen. Wenn das Elternhaus das nicht auffängt, müssen wir uns darum kümmern. Alles andere würde sehr teuer: Sitzen bleiben, ein mieser oder kein Schulabschluss, kein Beruf – das ist der direkte Weg in die Langzeitarbeitslosigkeit.

KÄSSMANN: Ich finde es gefährlich, wenn immer wieder nur Vorurteile verbreitet werden. Als Christin und Bischöfin stelle ich die Menschenwürde in den Vordergrund. Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes, auch wenn er nicht in der Lage ist, so viel zu leisten. Man sollte nicht so tun, als ob alle Hartz-IV-Empfänger Schmarotzer sind, die nicht arbeiten möchten. Mir begegnet bei vielen eher große Verzweiflung.

LEYEN: Mir ist als Grundeinstellung wichtig: Jeder kann etwas, auch wenn es unter einer dicken Schicht von Unzulänglichkeiten verdeckt ist. Gleichzeitig treibt mich die Frage um, ob die Brücken aus der Langzeitarbeitslosigkeit heute schnell genug gebaut werden. Jeder Arbeitslose, der in ein Jobcenter kommt, muss sicher sein, dass er Arbeit kriegt. Wir dürfen nicht nur fordern, wir müssen uns auch schneller kümmern.

Woher sollen die Jobs denn kommen?

LEYEN: Grundsätzlich sollte jedes Angebot eine Sprosse auf der Leiter raus aus der Arbeitslosigkeit bedeuten. Es macht beispielsweise wenig Sinn, jüngere Arbeitslose in Maßnahmen zu parken, die ihnen keine Perspektiven für die Zukunft eröffnen. Wenn auf dem ersten Arbeitsmarkt gar nichts geht, kann es auch öffentlich geförderte Beschäftigung sein. Untersuchungen zeigen, dass Ältere, die keine Chance mehr am ersten Arbeitsmarkt haben, zufriedener sind, wenn sie einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen können und einen strukturierten Tagesablauf haben.

Ist der Missbrauch von sozialen Leistungen so verbreitet, dass er angeprangert werden muss?


LEYEN: Natürlich gibt es auch Missbrauch bei Hartz IV, aber nicht massenhaft. In weniger als drei Prozent der Fälle werden Sanktionen ausgesprochen. Im internationalen Vergleich ermöglicht Hartz IV übrigens die strengsten Sanktionen.

KÄSSMANN: Und da würde ich auch gerne mal Zahlen dazu sehen, wie viel Steuerhinterziehung es hierzulande prozentual gibt. Der Mensch ist verführbar, sagt schon die Bibel, seit Adam und Eva.

Seit 1998 ist die Zahl der Armutsgefährdeten um ein Drittel gestiegen – trotz Pflegeversicherung, Elterngeld und Ausbau der Kinderbetreuung. Warum?

LEYEN: Diese Leistungen senken nachweislich das Armutsrisiko, aber sie ersetzen nicht das Prinzip, dass Arbeit der beste Schutz vor Armut ist. Es wird schwierig, wenn Menschen kein oder nur ein teilweises Einkommen erzielen können. Und das liegt auch daran, dass sich Deutschland lange in einem Dornröschenschlaf befunden hat, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht. Bei Alleinerziehenden zum Beispiel fehlt häufig der Kitaplatz oder die Ganztagsschule. Sie haben schon deshalb keine Chance auf einen Job – obwohl sie meist besser qualifiziert sind.

Hat die Politik versagt?

KÄSSMANN: Es ist bedrückend, dass Armut so zunimmt. In Westdeutschland haben wir lange gedacht, es ist am besten, wenn Kinder so lange wie möglich nicht staatlich betreut werden. Bildung so früh wie möglich aber ist der wichtigste Ausweg aus der Armut.

In Deutschland ist der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Warum sperrt sich die CDU gegen einen gesetzlichen Mindestlohn?

LEYEN: Mindestlöhne sind weder ein Allheilmittel noch eine Katastrophe, sondern einfach ein Instrument. Ich bin im Grundsatz der Überzeugung: Eine Person, die Vollzeit arbeitet, muss in der Lage sein, den Lebensunterhalt für sich selbst zu bestreiten.

Das ist vielfach nicht der Fall. Warum also kein flächendeckender Mindestlohn?

LEYEN: Wenn der Mindestlohn zu hoch ausfällt, vernichtet er Arbeitsplätze. In Frankreich hat ein von der Politik festgelegter Mindestlohn zu Massenarbeitslosigkeit bei Jugendlichen geführt. Ich finde unseren Ansatz richtig, branchenspezifische Mindestlöhne einzuführen, auf die sich die Tarifpartner erst einmal untereinander verständigen. Sie wissen am besten, wo der Punkt liegt, an dem der Lohn auskömmlich und der Arbeitsplatz noch sicher ist.

KÄSSMANN: Auch die EKD hat sich klar für branchenspezifische Mindestlöhne ausgesprochen, die allerdings gesetzlich festgelegt werden müssen, wenn sich die Tarifpartner nicht einigen können. Der Mensch muss von seiner Erwerbsarbeit leben können. Auch kirchliche Einrichtungen haben große Probleme, Tariflöhne in der Pflege zu zahlen, wenn sie ständig unterboten werden. Das ist eine dramatische Entwicklung. Wir brauchen dringend einen Mindestlohn für Pflegehilfskräfte. Inzwischen haben wir schon erste Anzeichen, dass dieses Problem auch Kindertagesstätten betrifft. Aber wer will denn für sich selber die billigste Pflege und Kindererziehung?

Ist es nicht besser, einen schlecht bezahlten Job zu haben als gar keinen?

KÄSSMANN: So formuliert, klingt das zu einfach. In der Tat, es ist auch eine Frage der Würde für die meisten Menschen, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Aber wenn Mitarbeiter gekündigt und dann auf 400-Euro-Basis wieder eingestellt werden, finde ich das unverantwortlich.

Sie spielen auf Schlecker an. Wie lässt sich solcher Missbrauch verhindern?

LEYEN: Zeitarbeit hat viele Menschen wieder zurück in den Arbeitsmarkt gebracht. Aber es war nie im Sinne des Gesetzgebers, dass Firmen ganze Stammbelegschaften entlassen und wieder als Zeitarbeiter einstellen. Wenn das nicht tariflich geregelt wird, muss der Gesetzgeber nachsteuern. Das haben wir genau im Blick.

KÄSSMANN: Es gibt auch die Möglichkeit der „Politik mit dem Einkaufskorb“. Dass Verbraucher sagen, ich kaufe nicht mehr bei Ketten ein, die so mit ihren Mitarbeitern umgehen.

Die soziale Schere öffnet sich immer weiter. Muss man nicht die Reichen stärker in die Pflicht nehmen?

KÄSSMANN: Das ist eine Frage der Haltung. Es ist mir unverständlich, wenn jemand seine Kinder hier in die Schule schickt, hier jederzeit ins Krankenhaus gehen kann – und dann sein Geld in Liechtenstein anlegt. Die Menschen können doch stolz sein, in einem Land zu leben, in dem die Starken für die Schwachen eintreten. In Deutschland ist eine merkwürdige Egomanie ausgebrochen. Der Slogan „Geiz ist geil“ hätte nie solche Furore gemacht, wenn nicht die Maßstäbe verloren gegangen wären.

Was halten Sie denn von den versprochenen Steuersenkungen?

KÄSSMANN: Wir halten das für keine gute Idee. Es gibt eine enorme Schuldenbelastung in Deutschland, die wir doch nicht einfach unseren Kindern überlassen dürfen. Es macht in meinen Augen keinen Sinn, die Leistungsfähigkeit des Staates zu beschneiden. Und es besteht kein Zweifel, dass das nicht nur für die Kommunen, sondern auch für die Kirchen problematisch werden würde.

LEYEN: Die Erhöhung der Kinderfreibeträge hat Familien in der Mittelschicht entlastet. Das war richtig. Ich sehe aber auch, dass die Luft für weitere Steuersenkungen immer dünner wird. Bei den Kirchen merkt man deutlich, wie sie in Bedrängnis geraten.

Die Kommunen haben ähnliche Probleme.

LEYEN: In Zeiten knapper Kassen müssen wir es schaffen, zielgenau dort zu investieren, wo sich das vitale Zentrum und die Zukunft unserer Gesellschaft befindet: bei den Kindern vor Ort. Und das muss in erster Linie über Sachleistungen geschehen. Besser bedürftigen Kindern den Zugang in die örtliche Musikschule, den Sportverein oder das Mehrgenerationenhaus ermöglichen, als unspezifisch aus der Gießkanne die direkte Geldleistung erhöhen.

Bedeuten Gutscheine nicht auch Entmündigung – nach dem Motto: Ihr schafft es nicht, das Geld sinnvoll zu verwenden?

KÄSSMANN: Es geht nicht um Entmündigung. Aber wenn wir Kinder gezielt fördern wollen, ist es sinnvoll, den Eltern Gutscheine für Musikschule, Sportverein, Zoobesuch oder Hausaufgabenbetreuung zu geben.

LEYEN: In Hamburg funktioniert das Gutscheinsystem bestens, dort fühlt sich keiner entmündigt. Im Gegenteil: Die Eltern suchen bewusst nach der besten Kita für ihre Kinder. Und die Kitas mühen sich, den hohen Ansprüchen der Eltern zu genügen. Auch in anderen Ländern sind durch Gutscheine mehr und bessere Angebote entstanden.

In der FDP sind einige der Meinung, der Hartz-IV-Regelsatz könne sinken.

LEYEN: Der Regelsatz ist nicht frei gegriffen, er hat das Existenzminimum zu decken. Das Verfassungsgericht hat uns gerade ins Stammbuch geschrieben, dass wir zu schlampig in der Berechnung waren und manchen Bedarf nur geschätzt haben. Deshalb wäre es respektlos gegenüber dem Gericht, ohne die notwendigen Daten, die erst im Herbst vorliegen, eine Debatte darüber zu führen, ob der Regelsatz rauf- oder runtergehen muss.

KÄSSMANN: Der Staat könnte ja beispielsweise jetzt das Geld der „Steuersünder“, die sich selbst angezeigt haben, nehmen, um ein warmes Mittagessen für alle Kinder zu finanzieren. Das wäre immerhin ein dreistelliger Millionenbetrag …

LEYEN (lacht): Den Vorschlag nehme ich gerne an. Es wäre gut investiertes Geld. Wir befinden uns heute noch in einer Spirale. Kinder, die im Unterricht nicht mehr mitkommen, obwohl sie die Talente haben, schmeißen die Schule, machen keine Ausbildung, landen in Hartz IV und kosten unendlich viel Geld.

Das Interview führten Cordula Eubel und Rainer Woratschka.

URSULA VON DER LEYEN

NIEDERSÄCHSIN

Wenn auch keine gebürtige: Ursula von der Leyen wurde vor 51 Jahren in Brüssel als Tochter des späteren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht geboren. Abitur in Lehrte bei Hannover, Frauenärztin an der Medizinischen Hochschule Hannover und 2003 Sozialministerin des Landes.

STURMFEST

Ihr Engagement für Kinderkrippen machte die Mutter von sieben Kindern Konservativen verdächtig – die Vätermonate in der Elternzeit wurden als „Wickelvolontariat“ geschmäht – aber auch der damalige SPD-Finanzminister hatte für Leyens Pläne wenig übrig. Im Mediengewitter ist von der Leyen freilich zu einer der beliebtesten Politikerinnen geworden.

EVANGELISCH

Ursula von der Leyen ist evangelische Christin. Mit Bischöfin Käßmann und Berlins Kardinal Sterzinsky initiierte sie 2006 ein „Bündnis für Erziehung“ – heftig kritisiert wegen der zunächst ausschließlichen Einbindung christlicher Würdenträger.

MARGOT KÄSSMANN

NIEDERSÄCHSIN

Auch sie wurde jenseits der Landesgrenze geboren, 1958 in Marburg. Seit 1999 steht sie an der Spitze der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, der größten der 23 Landeskirchen.

STURMFEST

Eine Frau, geschieden – Käßmann wurde im Herbst dennoch an die Spitze der EKD gewählt. Seither reagieren die Russisch-Orthodoxen bei Kontakten verschnupft. Und richtig Druck aus der Politik bekommt die Bischöfin, seit sie im Januar öffentlich anmerkte, dass in Afghanistan nicht alles gut sei.

EVANGELISCH

Käßmann wünscht sich mehr Ökumene, gleichzeitig plädiert sie für ein größeres protestantisches Selbstbewusstsein. Protest gegen unhaltbare Zustände zum Beispiel sei evangelische Tradition, sagt Käßmann. Da passt es, dass sie die Schirmherrschaft übernommen hat für das „Europäische Jahr gegen Armut und Ausgrenzung“. Eröffnen wird es nächste Woche – Ursula von der Leyen.

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