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Aktuell bis heute: Der Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink hat mit dem Völkermord von 1915 zu tun.

© AFP

Die Türkei und der Erste Weltkrieg: 1915 ist das zentrale Datum

Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg dreht sich in der Türkei um das zweite Kriegsjahr. Die Gallipoli-Schlacht gehört zum Gründungsmythos der modernen Türkei. Doch es gibt noch ein dunkles Kapitel: der Völkermord an den Armeniern.

Eine Niederlage, die als Anfang des späteren Triumphes gedeutet wird: In der Türkei wird der Erste Weltkrieg vor allem als Ouvertüre zur Gründung der türkischen Republik fünf Jahre nach Kriegsende gesehen. Damit wird der Krieg zum Teil der nationalen Identität und der Heldenverehrung für Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Diese Sicht der Dinge prägt – und verzerrt – das Bild des Konflikts bis heute. Doch in jüngster Zeit tauchen immer mehr kritische Fragen auf, vor allem mit Blick auf den Völkermord an den Armeniern.

Verrat und Schlappe

In der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung wird die Kriegsniederlage des damaligen Osmanischen Reiches größtenteils äußeren Faktoren zugerechnet, wie dem angeblichen „Verrat“ der Araber und der Schlappe des Bündnispartners Deutschland: „Schon in der Schule lernen die Leute in der Türkei über den Ersten Weltkrieg, dass die osmanische Armee heldenhaft an mehreren Fronten kämpfte, am Ende aber die totale Niederlage hinnehmen musste, weil Deutschland, ihr größter Verbündeter, besiegt wurde“, sagt der Historiker Bülent Bilmez.

"Extrem türkisch-zentriert"

Bilmez ist Vorsitzender der türkischen Stiftung für Geschichte, einer regierungsunabhängigen Institution, deren Blick auf die Vergangenheit sich häufig von der offiziellen Sicht der Dinge unterscheidet. Bei der türkischen Interpretation des Ersten Weltkrieges beobachtet Bilmez eine Tendenz, die Ereignisse „in einer extrem osmanisch- oder eher türkisch-zentrierten Weise“ darzustellen. Zusammen mit dem deutschen Orient-Institut in Istanbul organisiert Bilmez' Stiftung im April eine große Konferenz aus Anlass der hundertsten Jahrestages des Kriegsausbruchs. Dabei soll es um die Erlebnisse der Beteiligten gehen, die Kriegswirtschaft, Deportationen sowie Themen wie Propaganda und Kultur. Auch andere Veranstaltungen sind geplant.

Kampf um die Dardanellen

Für die Türkei steht aber nicht der Kriegsausbruch 1914 im Zentrum der Erinnerungen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf das Jahr 1915, das für das Land bis heute prägend ist. Damals wurde der osmanische Offizier Mustafa Kemal, der spätere Staatsgründer Atatürk, zum Nationalhelden. In der Schlacht um die Meerenge der Dardanellen bei Gallipoli westlich von Istanbul wehrten die Osmanen unter Mustafa Kemal den Angriff britischer, französischer, australischer und neuseeländischer Truppen ab. Die Schlacht steht für Patriotismus und Opfermut. "Ich befehle euch nicht zu kämpfen, sondern zu sterben“, soll Kemal seinen Soldaten gesagt haben. Der Sieg hielt den Untergang des Osmanischen Reich aber nicht auf, Istanbul und Teile Anatolien wurden besetzt, bevor Kemal den Widerstand organisierte, einen Krieg gegen die Besatzungsmächte begann und 1923 die Republik ausrief.

24. April 1915

1915 steht aber auch für eines der dunkelsten Kapitel in der neueren türkischen Geschichte: den Völkermord an den Armeniern. Am 24. April jenes Jahres begann in Istanbul die organisierte Vertreibung der Armenier. In aller Welt gedenken Armenier an diesem Tag des Völkermordes, der inzwischen von vielen Ländern als solcher anerkannt worden ist. Die Türkei weist den Begriff Völkermord jedoch zurück und spricht von einer Tragödie während einer kriegsbedingten Umsiedlung der Armenier. Fest steht, dass zwischen 300000 und mehr als 1,5 Millionen Menschen bei Todesmärschen und Massakern ums Leben kamen. Die moderne Geschichtsforschung ist sich einig, dass die damalige osmanische Regierung systematisch gegen die Armenier im Reich vorging und dabei den Tod vieler Menschen in Kauf nahm.

Heikles Thema

In der Türkei ist das Thema bis heute heikel, weil die Debatte das Selbstverständnis der modernen Türkei als „historisch saubere Nation“ betrifft, wie es der deutsche Historiker Christoph K. Neumann einmal formuliert hat. Mit dem Nachbarn Armenien unterhält die Türkei bis heute keine diplomatischen Beziehungen. Das Verhältnis zu Partnern wie Frankreich oder Deutschland wird immer wieder durch den Streit um den Ruf nach Anerkennung des Völkermordes belastet. Schon jetzt sorgt sich Ankara um eine neue Welle dieser Forderungen zum hundertsten Jahrestag im April 2015. Der Historiker Bilmez erwartet, dass die offizielle Türkei im kommenden Jahr vor allem die Erinnerung an den Sieg in der Dardanellen-Schlacht benutzen wird, um vom Jahrestag des Völkermordes abzulenken.

Das Tabu ist gebrochen

In der Türkei wurden die Armenier-Massaker über Jahrzehnte tabuisiert. Erste Diskussionen um den 90. Jahrestag der Massaker im Jahr 2005 lösten heftige Proteste von Nationalisten aus. Zwei Jahre später wurde der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink in Istanbul von Rechtsextremisten erschossen, weil er in der Öffentlichkeit für eine Anerkennung des Völkermordes geworben hatte. Dennoch: Das Tabu ist gebrochen. „Es gibt genügend Akademiker, Journalisten, Intellektuelle und Aktivisten, die bereit sind, sich den schmerzhaften Ereignissen der Vergangenheit zu stellen, allen voran dem Thema des armenischen Völkermordes“, sagt Bilmez. „Viele Leute glauben, dass wir endlich den Tatsachen ins Gesicht sehen und Verantwortung übernehmen müssen.“

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