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Ruth und Brigitte Süssmann am Scharmützelsee im Mai 1941.

© Doris Spiekermann-Klaas

Erinnerung an den Holocaust: Die Schatten der Toten

Von Kindheit an trug sie die Last ihrer Mutter mit, die ihre Töchter nicht beschützen konnte. Ihre Geschwister starben in Auschwitz – und waren doch nie fort. Ohne Bitterkeit sagt Eva Nickel: „Ich wurde für meine beiden Schwestern geboren.“ Nun will sie für die zwei sogar vor Gericht ziehen.

Die Puppe war nicht nur ein Geschenk. Sie war viel mehr: ein Vermächtnis. Aber wie hätte ein Mädchen von vier oder fünf Jahren das begreifen sollen? Die Mutter hatte die Kleider der blonden, blauäugigen Puppe selbst genäht. Die kleine Eva nahm eine Schere und schnitt die Kapuze ab. Als ihre Mutter das sah, verlor sie die Beherrschung, nahm einen Kleiderbügel und schlug ihre Tochter. Wieder und wieder, bis der Bügel zerbrach. Früher hatte die Puppe einmal Evas Schwester Ruth gehört. Sie und ihre zweite Halbschwester Gittel hat Eva nie kennengelernt.

Ruth Süssmann, sechs Jahre alt, und Brigitte Süssmann, vier Jahre alt, starben am 12. August 1944. Ermordet in einer Gaskammer in Auschwitz-Birkenau. Der Mord an den jüdischen Mädchen beschäftigt heute, mehr als 68 Jahre später, deutsche Staatsanwälte. Sie ermitteln gegen einen ehemaligen Wachmann in dem Vernichtungslager. Noch einmal könnte es einen Auschwitz-Prozess in Deutschland geben. Eva Nickel will ihren Schwestern einen letzten Dienst erweisen: Sie ist bereit, für sie vor Gericht zu gehen.

Im März vergangenen Jahres klingelte ihr Telefon. Ein Rechtsanwalt interessierte sich für die Geschichte ihrer Schwestern. Aber nicht nur das. Für einen möglichen Prozess gegen einen NS-Verbrecher suchte Thomas Walther Menschen, deren Angehörige in Auschwitz ermordet worden waren und die daher als Nebenkläger infrage kämen. Der 69-jährige Anwalt könnte längst ein ruhiges Dasein als Rentner führen. Doch er arbeitet mehr als je zuvor, denn er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten NS-Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Entscheidung fiel Eva Nickel keineswegs leicht. Wegen der psychischen Belastung, die so ein Verfahren mit sich bringen würde. Und weil sie mögliche antisemitische Reaktionen fürchtete, wenn sie an die Öffentlichkeit ginge. Ein halbes Jahr nach dem ersten Gespräch hat sie doch unterschrieben. Denn dazu fühlt sie sich verpflichtet. Den Schwestern gegenüber, und der Mutter.

Eva Nickel, die 1948 in Berlin zur Welt kam, hat von Kindheit an die Last ihrer Mutter Alice mitgetragen. Furchtbare Schuldgefühle plagten die Mutter, weil sie allein den Holocaust überlebt hatte. Der dritten Tochter gab sie die Namen der toten Mädchen: Eva Ruth Brigitte Nickel. „Ich wurde für meine beiden Schwestern geboren.“ Das sagt die stille Frau heute ganz sachlich, ohne Bitterkeit. „Ich bin aufgewachsen mit den Traumata meiner Eltern.“ Und mit den Schatten der beiden toten Mädchen. Gehasst hat sie die Halbschwestern, die durch ihre Abwesenheit ihr Leben prägten, nie. „Sie haben mir immer gefehlt und mit mir gelebt.“

Noch heute wohnt Eva Nickel in Prenzlauer Berg in der Wohnung, in der früher die beiden Mädchen spielten. „Sie sind immer noch da, wie Geister in dieser Wohnung“, sagt sie und blickt sich kurz in ihrem Wohnzimmer um. Die alte braune Schrankwand ist nicht nur voller Bücher, sondern auch voller Erinnerungen. Ein Foto der Mutter, Bilder von anderen Angehörigen, die den Holocaust überlebten – und Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Ermordeten. Das Landschaftsbild über dem Sofa hat ein Verwandter vor vielen Jahren gemalt. Jedes Erinnerungsstück hat seine eigene Geschichte. Und wenn Eva Nickel erst einmal ins Erzählen kommt, ergibt sich eine Geschichte aus der anderen. Manchmal verliert sie sich ein wenig in den Erinnerungen.

Spurensuche nach dem Tod der Mutter

Die 64-Jährige blättert in einem ausgeblichenen Album. Vor 70 Jahren hat ihre Mutter jedes Foto sorgfältig beschriftet. Es sind Bilder aus scheinbar unbeschwerten Tagen: im Hintergrund der von Birken umsäumte Scharmützelsee, im Vordergrund zwei kleine Mädchen mit dunklen Locken in einem Liegestuhl. Ruth und Gittel. Doch im Alltag der jüdischen Familie ist 1941 nichts mehr normal.

Zwei Jahre nach dem Ausflug an den Scharmützelsee führen Mutter und Kinder ein Leben in wechselnden Verstecken, immer in der Angst, entdeckt zu werden. Der zweite Mann der Mutter wird im Februar 1943 deportiert. Im Sommer bringt sie ihre Töchter nach Weimar und versteckt sie dort. Sie selbst muss nach Berlin zurück, um Geld und Lebensmittelmarken schicken zu können. Doch die wahre Identität der Kinder wird entdeckt, die Gestapo holt die Mädchen ab. Am 10. August 1944 werden sie in Berlin in einen Zug nach Auschwitz gesetzt. Die Mutter erfährt vom Schicksal ihrer Töchter erst, als sie nach dem Krieg Ruth und Gittel in Weimar abholen will.

Eva Nickel mit dem alten Fotoalbum ihrer Mutter.
Eva Nickel mit dem alten Fotoalbum ihrer Mutter.

© Doris Spiekermann-Klaas

Wie Eva Nickel leiden viele Kinder von Holocaust-Überlebenden unter den Traumata, die der millionenfache Mord an den europäischen Juden ausgelöst hat. „Das ist meine Meschuggitis, meine Traumatisierung“, sagt Eva Nickel mit einem traurigen Lächeln. Den Umgang mit den Traumata der anderen hat sie zum Beruf gemacht. Als Sozialarbeiterin der jüdischen Gemeinde betreute sie Holocaust-Überlebende und setzt ihre Arbeit nun auch nach der Pensionierung fort. Außerdem spricht sie mit Jugendlichen über Ruth und Gittel oder veranstaltet Führungen durch das alte jüdische Berlin. Denn dort sind für sie viele Häuser mit Erinnerungen und Geschichten verbunden.

Mit ihrer Familiengeschichte begann sie sich erst nach dem Tod der Mutter auseinanderzusetzen. Als Alice bereits von Krankheit gezeichnet war, glaubte sie, Ruth und Gittel seien wieder da. Ein Neurologe riet der Tochter mitzuspielen. „Ich habe ihr dann versichert, dass die Mädchen auf eine gute Schule gehen“, sagt Eva Nickel. Unmittelbar vor ihrem Tod hielt die Mutter die Hand ihrer einzigen lebenden Tochter und flüsterte: „Evi, Gitti, Ruthchen.“ Für Eva Nickel ist das eine Art Auftrag. Sie fängt an nachzuforschen, was mit den Schwestern passiert ist, ob sie verraten wurden und wenn ja, von wem. Am Ende dieser Spurensuche fährt sie nach Auschwitz. In der Gaskammer bricht sie zusammen.

Als der Zug mit den beiden Mädchen in Auschwitz hielt, am 12. August 1944, könnte auch der Wachmann Johann B. an der Rampe gestanden haben. Der Mann, gegen den deutsche Staatsanwälte ermitteln, lebt heute ein ganz normales Leben in den USA. Der 87-jährige pensionierte Werkzeugmacher wohnt in einem Reihenhaus in Philadelphia und ist Vater von drei Kindern. Journalisten will er keine Auskunft über die Vergangenheit geben. Aber als er vor vielen Jahren von US-Behörden vernommen wurde, gab er zu, Wachmann in Auschwitz gewesen zu sein.

Johann B., geboren in einem slowakischen Dorf und Angehöriger der deutschen Minderheit, meldet sich mit 17 Jahren freiwillig zur Waffen-SS. Weder auf ihn noch auf seine Familie wird dabei Druck ausgeübt. Seine Eltern und er sind froh, dass er nicht an die Front muss. Im Konzentrationslager Buchenwald lässt er sich zum Wachmann ausbilden. Später wird er nach Auschwitz versetzt. Ab hier sind seine in den USA gemachten Aussagen dürftig. Er bestreitet, Dienst in Birkenau geleistet zu haben, bei den Gaskammern oder an der Rampe. Den Rauch, der aus den Krematorien aufstieg, nahm der junge Mann wahr, und er sah die Deportationszüge. Dass in Auschwitz Juden ermordet wurden, wusste er. All das gibt er im Gespräch mit US-Ermittlern zu. Doch von den Gaskammern will er nichts gewusst haben. Seine Waffe habe er nie benutzt, behauptet er. Ende 1944 wird er in Auschwitz befördert.

Das alles hat die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg dokumentiert. Dass Johann B. nur bei der Außenbewachung eingesetzt wurde oder Baukommandos beaufsichtigte, wie er selbst behauptet hat, glauben die Ermittler nicht. Zwischen Mai und Ende Oktober 1944 seien vielmehr alle Wachleute in Birkenau auch zum Dienst an der Rampe eingeteilt worden. Mindestens 344 000 Menschen wurden in dieser Zeit ermordet. Zwei von ihnen waren Ruth und Gittel.

Empörung über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft

Auch wegen Beihilfe zum Mord an den Mädchen wird Johann B. sich möglicherweise verantworten müssen. So will es zumindest Rechtsanwalt Thomas Walther. Ohne seine Hartnäckigkeit wäre auch dem früheren Wachmann John Demjanjuk nie in Deutschland der Prozess gemacht worden. Der Jurist hatte dessen Fall bis ins Detail recherchiert, als er noch Ermittlungsrichter in Ludwigsburg war. Der Gedanke, der seinen Überlegungen und später auch der Anklage und dem Urteil zugrunde lag: Wer als Wachmann in einem Vernichtungslager tätig war, ermöglichte den Massenmord und machte sich mitschuldig. Demjanjuk wurde 2011 wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt. Weil er vor der Revision starb, wurde das Urteil nicht rechtskräftig. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg sucht gezielt nach ähnlichen Fällen. Einer von ihnen ist Johann B.

Im August 2012 schickten die Ludwigsburger Ermittler ihren Bericht an die Staatsanwaltschaft im bayerischen Weiden. Auf 184 Seiten suchen sie Johann B. eine Mitschuld an dem Massenmord nachzuweisen. Trotz der umfangreichen Vorarbeit haben die Weidener Staatsanwälte fünf Monate später noch nicht entschieden, ob sie Anklage erheben. „Wir sind mitten in den Ermittlungen“, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer. „Vor einer Anklageerhebung müssen wir alle Arten von Beweismitteln sammeln.“ Wichtige Dokumente sollen erst im Original beschafft werden, etwa aus Russland. Aus Walthers Sicht dauern die Ermittlungen in Weiden bereits viel zu lange. „Es entsteht der Eindruck, dass man dort den Fall eigentlich nicht will.“ Da Johann B. bereits sehr alt ist, sei Eile geboten.

Die Staatsanwälte wollten auch Eva Nickel als Zeugin vernehmen lassen. Auf das, was dann kam, hatte sie ihr Anwalt nicht vorbereiten können. Eine Beamtin vom Berliner Landeskriminalamt stellte ihr im Auftrag der Staatsanwälte Fragen. „Sie wollten etwas über die ersten beiden Ehemänner meiner Mutter wissen und über meine Großmutter, die Kommunistin war.“ Eva Nickel kann nicht verstehen, was Familiengeschichten mit der Sache zu tun haben. Schließlich sollte sie auf einer Karte von Auschwitz zeigen, welchen Weg ihre Schwestern zur Gaskammer gegangen waren. Wie hätte sie das wissen sollen? Nach der Befragung war sie aufgewühlt, fühlte sich verletzt.

Thomas Walther ist empört über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft: „Diese Befragung war völlig sinnlos. Sie hat keinerlei Aufklärungswert für den Fall.“ Auch ungarische Angehörige von Holocaust-Opfern seien nun verunsichert. Sie wurden ebenfalls zum Gespräch gebeten. Die Vernehmungen der Zeugen seien ein „Akt der Fürsorge“, erklärte Schäfer. „Sie sollen Gelegenheit haben, ihr Schicksal und das ihrer Angehörigen zu schildern.“ Eva Nickel dagegen sagt, sie fühlte sich durch die Fragen unter Druck gesetzt.

Wenn sie über Johann B. redet, ist von Hass nichts zu spüren. „Jeder, den man noch kriegen kann, sollte vor Gericht gestellt werden.“ Sie weiß, dass er ein sehr alter Mann ist, einer, der in Auschwitz am unteren Ende der Befehlskette stand, und dass viele SS-Offiziere von der deutschen Justiz nie belangt wurden. Aber diese Argumente, die gegen einen Prozess sprechen könnten, verblassen in Eva Nickels Wohnzimmer. Dort, wo die Vergangenheit nicht vergeht. Auch Johann B. könnte am Ende von seiner Vergangenheit eingeholt werden.

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