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Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

© dpa

EU-Türkei-Abkommen: Flüchtlingsdeal? Nicht mit uns!

Es geht nicht mehr darum, Menschen in Not zu helfen, sondern sie aus Europa fernzuhalten. "Ärzte ohne Grenzen" weigert sich, Teil dieser Einrichtung zu sein. Ein Protestruf.

Für unsere Teams auf Lesbos war es ein Schock: Seit zehn Monaten hatten sie die Untätigkeit der EU-Staaten ausgeglichen und Flüchtlinge auf der griechischen Insel mit dem Nötigsten versorgt. Sie richteten Kliniken ein, verteilten Zelte und Hilfsgüter, sorgten für Wasserlieferung und Sanitäranlagen. Sie arbeiteten auch im Lager Moria, das von den griechischen Behörden erst als Registrierungszentrum genutzt und dann von der EU zum „Hotspot“ erklärt wurde – einem Flüchtlingszentrum in gemeinsamer Verantwortung. Doch im März, nach dem Abkommen der EU mit der Türkei, wurde es plötzlich ein Gefängnis, als Teil eines Deals, bei dem es nicht mehr darum geht, Menschen in Not zu helfen. Sondern sie aus Europa fernzuhalten.

Aus dem Flüchtingszentrum wurde plötzlich ein Gefängnis

Unsere Patienten durften das Lager nun nicht mehr verlassen. Sie konnten sich nicht einmal innerhalb des Zauns frei bewegen, um beispielsweise unsere Klinik aufzusuchen. Unsere Mitarbeiter sahen, wie auch Kinder und Frauen, die eben einem Krieg entkommen waren, wie Häftlinge behandelt wurden. Sie wurden Zeugen eines zynischen Systems, das Schutzsuchende inhaftiert und zur Abschiebung vorbereitet. In dieser Situation mussten wir sagen: Nein, nicht mit uns! Wir weigern uns, Teil einer Einrichtung zu sein, die keine Rücksicht auf die Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden und Migranten nimmt. Deshalb beendeten unsere Teams ihre Hilfe innerhalb des Lagers.

Ärzte ohne Grenzen beendet seine Arbeit im Lager auf Lesbos

Dieser neue Schritt zur Abschottung Europas ist in mehrfacher Hinsicht verstörend. Vor allem ist er ein weiterer Schlag für Menschen, die viel durchgemacht haben. Am Zaun des ebenfalls geschlossenen „Hotspots“ der Insel Samos sprachen unsere Mitarbeiter mit Hala, einer 16-jährigen Syrerin, und ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Omar. Die Eltern der Teenager sind in Deutschland. Sie waren zunächst alleine geflohen, weil sie die Flucht nicht für alle bezahlen konnten. Hala hatte das Geld für die gefährliche Überfahrt in türkischen Restaurants verdient. Neben ihr stand der kaum ältere Syrer Saleh, der Schusswunden zeigte und erzählte, er sei fünfmal im Krieg verletzt worden. Jetzt muss er in einem durchnässten Zelt schlafen. Menschen wie Hala, Omar und Saleh spielen kaum noch eine Rolle, wenn deutsche Politiker heute über Flüchtlingspolitik debattieren.
Zweitens zeigt die Inhaftierung von Schutzsuchenden, dass für Europa oft Abschottung wichtiger ist als Hilfe. Die EU-Staaten sperren Menschen zu Tausenden ein, aber ausreichende Unterkünfte, Sanitäranlagen und Gesundheitsversorgung haben sie in den „Hotspots“ nicht organisiert.

Flüchtlinge bleiben in akuter Gefahr in Syrien hängen

Die vielleicht schlimmste Folge der Abschottung ist aber: Sie trägt indirekt dazu bei, dass Flüchtlinge schon in Kriegsgebieten in akuter Gefahr hängenbleiben. In Syrien sitzen nördlich von Aleppo zwischen der Front und der geschlossenen türkischen Grenze etwa 75 000 Menschen fest. Nur Verletzte können in die Türkei gebracht werden. Auch im Süden, an der jordanischen Grenze, sind 45 000 Menschen blockiert, nur wenige dürfen passieren. Die Grenzschließungen hängen auch damit zusammen, dass Menschen kaum noch weiter nach Europa fliehen können. Die Türkei hat schon mehr als drei Millionen Menschen aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Im Libanon ist jeder Vierte ein Flüchtling.

Die Not von Flüchtlingen nimmt weltweit dramatisch zu

In Europa gerät fast völlig aus dem Blick, dass die Not von Flüchtlingen weltweit dramatisch zunimmt. Mehr als 90 Prozent der Neuankömmlinge in Europa kommen aus drei Kriegsgebieten: Für die Menschen in Afghanistan war 2015 das tödlichste Jahr, seit die Vereinten Nationen mit dem Zählen der Toten begannen. Im Irak steht der Kampf um die vom „Islamischen Staat“ kontrollierte Millionenstadt Mossul bevor. In Syrien ist die Situation trotz partieller Waffenruhe vor allem in den belagerten Gebieten weiter katastrophal. Dort werden Schulen und Kliniken bombardiert, und noch immer verhungern Menschen.
Das Abkommen der EU mit der Türkei steht aus unserer Sicht deshalb im Widerspruch zu den von der Politik so oft beschworenen Grundwerten Europas und zu einem Grundsatz des Völkerrechts: dem Recht, vor Krieg und Verfolgung zu fliehen.

Der Autor ist Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“ Deutschland.

Volker Westerbarkey

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