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Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen Plan in der Flüchtlingspolitik?

© dpa/EPA/Laurent Dubrule

Flüchtlinge in Europa: Angela Merkel und ihr Aufbruch ins Offene

Ein Deutschland ohne Flüchtlinge beschäftigt bald nur noch rückwärtsgewandte Utopisten. Sicher, ein Plan ist nötig. Aber das Vertrauen in die Machbarkeit des Mammutprojektes Integration auch. Ein Kommentar.

Um die Weichen des Lebens richtig zu stellen, ist ein innerer Kompass von größerem Wert als ein berechnender Intellekt. Ob Umzug, Ausbildung, Berufswahl, ob Bindung, Trennung oder Kinder: Jede Etappe ist immer auch ein Aufbruch ins Offene, in die Unversicherbarkeit. Kühle Kalküle müssen den Entscheidungen vorausgehen, aber auf sie allein lässt sich nicht bauen. „Ja, mach nur einen Plan, sei ein großes Licht“, heißt es bei Bertolt Brecht in der „Dreigroschenoper“, „und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh’n tun sie beide nicht.“

Gibt es überhaupt einen Plan?

Was ist Angela Merkels Plan in der Flüchtlingskrise? Sie beteuert, sie habe einen, aber die Zweifler glauben ihr nicht. Immer dramatischere Szenarien beschwören sie herauf: von der Bedrohung der nationalen Identität über die Bildung von Kontragesellschaften bis zur massiven Wohnraumverknappung und einem neuen Arbeitslosenheer.

Dem aufmunternden „Wir schaffen das“ hallt ein verzagtes „Sie schaffen uns“ entgegen. Dass auf dem jüngsten EU-Gipfel erneut keine gerechte Verteilung der Flüchtlinge durchgesetzt wurde, wird als Selbstisolierung Deutschlands und als überbordender nationaler Egoismus anderer europäischer Staaten kritisiert. Merkels Flüchtlingspolitik polarisiert. Eine Verständigung der Lager findet kaum statt.

Das überrascht nicht, weil verschiedene Kategorien aufeinanderprallen. Wenn ein Kind zu spät zur Schule kommt, weil es einer alten Frau über die Straße geholfen hat, loben es die einen für seine Tugend, während es die anderen für seine Pflichtenvernachlässigung tadeln. Merkels Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, resultierte aus einer Haltung, einem Ethos. Ähnlich war es bei der Energiewende.

Auch andere Kanzler haben ihrem inneren Kompass vertraut, ohne zum Zeitpunkt der Entscheidung alle Konsequenzen abschätzen zu können. Konrad Adenauer bei der Westbindung, Willy Brandt bei der Ostpolitik, Helmut Schmidt bei der Nato-Nachrüstung, Helmut Kohl bei der Wiedervereinigung, Gerhard Schröder bei der Agenda 2010. Sie alle handelten nach bestem Wissen und Gewissen. Und indem sie handelten, schufen sie Fakten, eine neue Realität. Das ist das Wesen von Politik.

"Existenz der Exponentialkurve"

Auf dem jüngsten EU-Gipfel wurde Merkel um kurz nach Mitternacht gefragt, woher sie ihren Optimismus in der Flüchtlingsfrage nehme. Sie antwortete: „Man kann nur vertrauen auf die Existenz der Exponentialkurve.“ Auch jede Lernkurve beginne langsam, steige dann aber immer steiler an.

Die Episode zeigt, dass die Kanzlerin auf ein graduell wachsendes Verständnis für ihre Politik setzt – sowohl bei ihren Landsleuten als auch bei den europäischen Nachbarn. Das ist klug. In der Mathematik sind plötzliche Einsichten möglich, im Leben und in der Politik müssen Einsichten reifen können.

Die Flüchtlinge sind ja nun da. Sich ein Deutschland ohne sie zu wünschen, wird bald nur noch rückwärtsgewandte Utopisten kennzeichnen. Die Sehnsucht nach einem weniger komplizierten Gestern aber kann die akute Aufgabe, Gegenwart und Zukunft in einem Deutschland mit Flüchtlingen zu gestalten, nicht verdrängen. Etwas mehr Plan, wie das geschehen soll, wäre schön. Etwas weniger Schwarzmalerei, warum das nicht gelingen kann, wäre ebenfalls schön.

Auch die Wiedervereinigung war ein Mammutprojekt. Ob sie richtig oder falsch war, interessierte schon kurz nach dem 3. Oktober 1990 niemanden mehr.

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