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Griechenland: Auf der Intensivstation

Vor einem Jahr explodierte in Griechenland der Zorn der Jugend über den maroden Staat. Seitdem ist nichts besser geworden. Ein Land in Agonie.

Hier war es: An dieser Ecke im Athener Stadtviertel Exarchia, wo die Tzavella- auf die Messolongi-Straße trifft, haben der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos und seine Freunde, die ihn Alexis nannten, am Abend des 6. Dezember 2008 gestanden. In der Nähe waren zwei Polizisten. Es habe einen Wortwechsel gegeben, sagen Augenzeugen. Dann zieht einer der beiden Polizisten seine Pistole und feuert drei Schüsse ab. Alexis bricht zusammen. Freunde schleifen ihn ein paar Meter aus der Schusslinie, aber sie können keinen Puls mehr fühlen.

In der griechischen Autonomenszene verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Wenig später fliegen Brandflaschen, splittern Schaufenster. Noch in der Nacht greifen die Proteste auf andere Städte über. Es sind die schwersten Unruhen seit Jahrzehnten. Für mehr als eine Woche brennen Nacht für Nacht Bankfilialen, Geschäfte werden verwüstet, Autos abgefackelt. Der Tod von Alexis war nur der zündende Funke. Hier implodierte eine staatliche Ordnung, deren Fundamente längst marode waren – ein abgewirtschafteter Staat, ohne Autorität.

Ein Jahr danach ist das Land scheinbar zur Normalität zurückgekehrt. Die Spuren der Krawalle sind fast alle getilgt. Die Banken haben neues, noch dickeres Panzerglas installiert. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Nicht nur die Finanzkrise macht dem Land zu schaffen. Seit den Unruhen ist auch ein schon vertriebenes Gespenst zurückgekehrt: der Terrorismus. Staat und Gesellschaft sehen sich von einer neuen Terroristengeneration herausgefordert. Die Fahnder glauben, dass sie sich aus dem Reservoir der Dezemberunruhen rekrutiert.

Das Wiedererstarken des Terrorismus gehört zum verhängnisvollen Erbe der Anfang Oktober abgewählten konservativen Regierung. Die Dezemberunruhen besiegelten das unrühmliche Ende des Premiers Kostas Karamanlis. Er hinterließ nicht nur den höchsten Schuldenberg in der Geschichte des Landes, sondern auch eine verwahrloste politische Kultur. Nach einer Statistik der Organisation Transparency International ist Griechenland inzwischen das korrupteste Land der EU. Beim Wirtschaftsklima liegt Griechenland unter 183 Staaten auf Platz 109 – noch hinter den Fidschi-Inseln, Äthiopien und Papua-Neuguinea. Seit der Obristendiktatur hat kein griechischer Premier sein Land so rasant abgewirtschaftet wie Karamanlis.

„Warum sollte ich den Politikern vertrauen?“, fragt die 15-jährige Stella. Sie sitzt mit drei Freundinnen in einer verqualmten Bar in Exarchia. Wie alle griechischen Schüler sind die drei eingezwängt in das Korsett des wohl rückständigsten Bildungssystems in Europa. Es ist vor allem darauf ausgerichtet, dass die Schüler eingetrichtertes Wissen in den Prüfungen möglichst genau reproduzieren können. „Du bist ständig in der Tretmühle und musst Dinge lernen, mit denen du im wirklichen Lebens nichts anfangen kannst“, sagt Stella. In den Pisa-Studien belegt Griechenland regelmäßig letzte Plätze. Das griechische Bildungswesen produziert vor allem Arbeitslose. Nirgendwo in der EU ist die Jugendarbeitslosigkeit so hoch wie hier.

Ein marodes Bildungswesen, ein Staat, der moralisch und ökonomisch am Ende ist: Das ist das Erbe, das der seit zwei Monaten regierende sozialistische Premier Giorgos Papandreou antritt – „ein Land auf der Intensivstation“, wie Papandreou selbst sagt. Der 57-Jährige kommt aus einer der großen griechischen Politikerdynastien, die das Land seit Jahrzehnten abwechselnd regieren. Schon Papandreous Vater und Großvater waren Premierminister. Polit-Clans wie die Papandreous oder die Karamanlis haben Griechenlands politische Kultur geprägt. Ihr tragender Pfeiler ist das Klientelsystem – ein Netzwerk aus Patronage und Gefälligkeiten, Filz und Vetternwirtschaft. Papandreou hat diesem System nun den Kampf angesagt. Der in den USA geborene und aufgewachsene, in Kanada und Schweden ausgebildete Soziologe, der erst im Alter von 27 Jahren nach Griechenland kam, will die Günstlingswirtschaft zerschlagen. Die neue Regierung verspricht auch einen humanen Umgang mit Armutsflüchtlingen und Asylbewerbern, die zu Zehntausenden in überladenen Booten die Ägäis überqueren und dann unter unmenschlichen Bedingungen in Auffanglagern auf den Ägäisinseln eingepfercht sind. Und Papandreou demonstriert eine für griechische Politiker ganz untypische Tugend: Bescheidenheit. Er strich seiner Regierung die dicken Dienst-Mercedes.

Ein anderes Problem für Papandreou ist die Steuerhinterziehung. Fachleute schätzen das Volumen der Steuerhinterziehung in Griechenland auf rund 30 Milliarden Euro im Jahr. Das entspricht ziemlich genau dem diesjährigen Haushaltsdefizit. Anders gesagt: Wenn alle Griechen ehrlich ihre Steuern zahlen würden, hätte das Land einen ausgeglichenen Haushalt.

Die Steuerhinterziehung ist ein weiteres Indiz für den Autoritätsverlust des Staates. Aber jetzt droht der Zusammenbruch. Weil die Steuermoral der Griechen immer schlechter wird, die Regierungen zugleich immer hemmungsloser Geld ausgeben, explodiert das Haushaltsdefizit. In Athener Finanzkreisen wird bereits spekuliert, das Land müsse schon bald die Hilfe des Internationalen Währungsfonds in Anspruch nehmen.

Ganz andere Sorgen hat Epaminondas Korkoneas. Er sitzt seit fast einem Jahr im Untersuchungsgefängnis Korydallos bei Piräus. Der 37-jährige Polizist, der im Kollegenkreis Rambo hieß, soll den tödlichen Schuss auf Alexis abgegeben haben. War es ein gezielter Todesschuss, wie Augenzeugen sagen? Oder, wie Korkoneas behauptet, ein Warnschuss, der sich verirrt hatte? Eigentlich sollte der Prozess am 15. Dezember in Athen beginnen. Doch das schien der Justiz etwas zu nah am Tatort – und am Jahrestag. So soll das Verfahren nun erst am 29. Januar beginnen, in der Kreisstadt Amfissa in den Bergen, viereinhalb Autostunden von Athen entfernt und leicht abzuriegeln.

Aber den Jahrestag des Todesschusses kann man nicht aufschieben. Die linke Szene plant Demonstrationen. „Wir werden nicht zulassen, dass sich die Ereignisse vom vergangenen Dezember, die Zerstörungen und Plünderungen, wiederholen“, versichert Michalis Chrysochoidis, der neue Minister für Bürgerschutz.

Das Haus, vor dem Alexis starb, steht heute leer. Jemand hat das Straßenschild überpinselt und darunter ein neues Schild angebracht. „Alexandros Grigoropoulos“ heißt die Straße jetzt. Graffiti bedecken die Hauswände bis zum ersten Stock hinauf. „Solidarität“ steht da, und „Alexis, du lebst!“. Und die Losung „Kill Cops“.

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