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Anhänger der islamfeindlichen Pegida-Bewegung auf dem Altmarkt in Dresden.

© dpa

Intoleranz als Tabubruch: Wie mit Pegida alles anfing

Bei Pegida begann, was 2016 auch woanders salonfähig wurde: das Zelebrieren von Islamablehnung und Intoleranz als ein bewusster Tabubruch. Ein Gastbeitrag.

Der Tabubruch durchzieht menschliches Handeln. Regeln existieren, um gebrochen zu werden - denn dadurch werden Werte, Erwartungen und Hierarchien erfahrbar und verhandelt. Diese Einsicht hilft uns, auch Pegida und ähnliche Protestgruppen besser zu verstehen und politisch zu reagieren. Die zwei Galgen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel, die Pegidisten auf einem Marsch im Herbst 2015 herumtrugen, waren dabei nur ein besonders auffälliger Ausdruck einer politischen Inszenierung, die von Anfang an auf Skandalisierung setzte und bewusst vor allem westdeutsche Tabus brach, nämlich durch das Zelebrieren von Xenophobie, Intoleranz und Islamablehnung.

In einer durch Migration geprägten Gesellschaft wie der Westdeutschlands, in der die offene und aggressive Diskriminierung von religiösen oder ethnischen Minderheiten politisch und auch sozial über die Jahrzehnte zu einem wichtigen Tabu wurde, schafft der inszenierte Skandal politische Sichtbarkeit, besonders unter eher liberalen Eliten in der Politik, der Presse oder der Kultur. Dabei ist auch in Dresden der Tabubruch vor allem politisches Spektakel. Die meisten Pegida-Anhänger kennen keine, oder wenige, Muslime und benennen sie auch selten als Hauptgrund für ihren Protest. Stattdessen erzählen sie Geschichten von demographischem Wandel, einem Gefühl der Abwertung ihrer Lebenswelt und verlorenen Hoffnungen. Sicherlich sind auch immer einige dabei, die verängstigt und wütend auf Migration reagieren und Vorurteile hegen. Aber gerade auch in Gegenden, in denen kulturelle Diversität eine relativ neue Erfahrung ist, ist Furcht vor dem Unbekannten - ein wichtiges menschliches Gefühl, das mit Neugier einhergeht - nichts ungewöhnliches und drückt selten ein nationalsozialistisches Weltbild aus.

Der Großteil der Pegidisten kommt auch nicht aus Dresden, sondern aus dem Dresdner Hinterland und ländlichen Regionen in Sachsen, Brandenburg, Thüringen und auch Bayern. Besonders östlich von Dresden haben sich in vielen Dörfern und Kleinstädten in den letzten zwei Jahrzehnten Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit ausgebreitet. Viele geben an, dass sie von den Versprechen der 1990er Jahre - Demokratie und freie Marktwirtschaft - enttäuscht geblieben sind. Betriebe wurden geschlossen und viele junge Menschen, insbesondere Frauen, zogen fort. Geblieben ist ein Männerüberschuss, der sich auch bei Pegida niederschlägt, sowie das Gefühl, mit den raschen Veränderungen von öffentlichen Institutionen im Stich gelassen worden zu sein.

Gemeinde- und Kreisgebietsreformen haben auf dem Land vielerorts Bushaltestellen zum einzigen Relikt staatlicher Versorgung gemacht. Der Staat hat sich von seinen Bürgern entfernt - und zwar auch von denen, die nicht unbedingt materiell schlechter gestellt sind, aber die sich um Schulen oder die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Vor diesem Hintergrund ist der Tabubruch Intoleranz als Verlangen nach politischer Sichtbarkeit einzuordnen, gerade vielleicht in Gegenden, in denen während der DDR der schützende Staat deutlich präsenter war und das Gefühl politischer Bedeutung größer. Aber auch in Dresden selbst wurde vor einigen Jahren der kommunale Wohnungsbestand an einen Großinvestor verkauft, dem Unmut der Bevölkerung zum Trotz. So wurde Verantwortung für soziale Gerechtigkeit und die Verfügbarkeit von Wohnraum privatisiert. Diese politisch-ökonomischen Entwicklungen sind der eigentliche Kern von Protestbewegungen wie Pegida und auf sie kann Politik reagieren.

Politisch Verantwortliche übernahmen Pegida-Begriffe

Seit Jahren wurde in sächsischen Städten und Gemeinden gegen staatlichen Rückzug protestiert, aber ohne Ergebnis. Erst Pegida, durch die horizontale Vernetzung in sozialen Medien, koordinierte kleinere Proteste und konzentrierte diese auf der großen städtischen Bühne, vor der Kulisse der Semperoper und des Zwingers. Die schöne Stadt wurde zum Abbild eines frustrierten Hinterlandes. Pegidisten erfuhren ungeahnte Berichterstattung. Der inszenierte Skandal Intoleranz hatte Erfolg: Plötzlich gab es wieder Bürgerdialoge und Debatten über mehr Polizei, mehr Lehrer, mehr Staat. Selbst Vizekanzler Sigmar Gabriel suchte das Gespräch. Das Ziel, mehr Gehör für eigenen Anliegen, wurde durch gezielte Skandalisierung erreicht. So wurde auch ein Präzedenzfall für ähnliche Gruppen, auch die AfD oder die Identitären, geschaffen: Intoleranz als Druckmittel.

Allerdings übernahmen viele politisch Verantwortliche nun auch Pegida-Begriffe: Sie sprachen plötzlich von Krisen, Wellen, Lawinen, Überfremdung, Ausnahmezustand, Staatsversagen oder Herrschaft des Unrechts. Verbale Angriffe auf Minderheiten brachen aus Dresden in den politischen Mainstream. Diejenigen, die jahrzehntelang Integration als Projekt für Menschen mit Migrationshintergrund abgelehnt haben, warfen denselben mangelnden Patriotismus und Integrationsversagen vor. Ein Land, das sich lange nicht einmal klar als Einwanderungsland definieren wollte, verlangte mehr Einsatz von angeblich undankbaren Einwanderern, denen in der Vergangenheit politische Teilhabe erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wurde. Muslime sollten zu Deutschland gehören, wurde oft gesagt, aber nicht ihr Islam - aber wie sollen eine Religion ohne Religiöse oder Religiöse ohne Religion existieren? Ungefähr ein Viertel der Menschen in Deutschland hat ausländische Wurzeln - trotzdem entbrannte wieder eine Debatte über angebliche negative Aspekte der Vielfalt. Multikulturelle Diversität wurde stigmatisiert und rassistische Sprache expandierte.

So wurde Pegida-Sprache übernommen, aber ohne zu begreifen, dass es oft nicht schlicht um kulturelle Diversität geht, sondern eher um Arbeit, Gerechtigkeit, staatliche Solidarität, Renten, Angst vor schnellem Wandel, Wohnraum oder Schulen. Die skandalisierende xenophobe Form wurde fatalerweise, und fälschlich, zum Inhalt eines viel umfassenderen politischen Diskurses und dadurch weiter politisch legitimiert und ausgenutzt. Natürlich sind bei Pegida auch Reichsbürger, Neonazis, Identitäre, und Antisemiten dabei. Krude Demokratieverständnisse und der Mangel an Erfahrung mit Migration bedingen Ablehnung besonders im Osten. Rassismus und Antisemitismus haben auch die westdeutsche Gesellschaft, trotz jahrzehntelanger Erfahrung einer freien Gesellschaft, nie verlassen. Es ist auch legitim und wichtig für eine Demokratie, eine öffentliche Debatte über Zuwanderung und Asyl, die ein Staat aufgrund historischer oder kultureller Besonderheiten steuert, kontrovers zu führen. Aber es ist verheerend, soziale, politische und wirtschaftliche Herausforderungen, mit denen viele Deutsche in ländlichen Regionen konfrontiert sind, auf Migration oder Islam zu reduzieren.

Ein Artikulationsraum für Frustration

Pegidisten wollten gehört werden und schrien „rapefugees not welcome“, aber hatten eine Vielfalt von Dingen zu sagen. Ein Teilnehmer erzählte Frank Richter, dem ehemaligen Direktor der Landeszentrale für Politische Bildung in Sachsen: „Sie können sagen, was Sie wollen - so lange ich keinen Job und keine Frau bekomme, gehe ich zu Pegida.“ Pegida wurde eine Plattform für viele Stimmen - darunter Russlandfreunde, Amerikahasser, Eurokritiker - aber ohne eindeutige Botschaft. Sicherlich spielen DDR-Nostalgie und Verklärung - sowie ein subjektives historisches Gedächtnis und die Tendenz zu konservativen Einstellungen im Alter - auch eine Rolle bei Frustrationserfahrungen. Sie vermischen den Übergang von DDR-Sozialismus zur Demokratie mit dem Wandel im eigenen Leben, von idealistischer Jugend zu Ernüchterung im Alter.

Aber auch für Jüngere und die Mittelschicht bietet Pegida einen Artikulationsraum für Frustration, die aber nicht auf Diversität, Islam, oder Nazismus reduziert werden sollte. Es geht vor allem auch um die wachsende Erfahrung eines Unterschiedes von Zentrum und Peripherie. Xenophobie wurde als verbindendes Element der Skandalisierung instrumentalisiert. Bei einer Demonstration sprach ich mit einem Teilnehmer, der eine Israelfahne spazieren trug. Er wollte damit Solidarität mit der israelischen Regierung ausdrücken, die, angeblich wie auch Pegida, ständig am Pranger stünde, obwohl sie nur Selbstverteidigung praktizierte. Ein paar Meter dahinter trug jemand ein Plakat, auf dem Israel kriegerischer Zionismus und Imperialismus unterstellt wurde. Pegida ist heterogen und nicht auf eine Botschaft zu reduzieren - aber genau dies wurde getan, als der inszenierte Tabubruch Islamhass zum zentralen Inhalt erhöht wurde.

So wurde eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geschaffen: Etablierte politische Kräfte, die Pegida-Themen übernahmen, verteidigten sich damit, nur Ängste der Bevölkerung vor Überfremdung aufzugreifen. Dabei produzierten sie aber diese Ängste vor allem selbst, da sie nun, als Vertreter von Institutionen und mit politischer Verantwortung, vor Identitätsverlust, Staatsversagen und Unrechtsherrschaft warnten. Dies schaffte Verunsicherung, die weit über den Einfluss von Pegida hinausging. Es ist ein Unterschied, ob Protestierende bei einer politischen Demonstration über Ausnahmezustand schreien, um auf verschiedene Positionen aufmerksam zu machen oder ein gewählter Parteipolitiker mit lokaler, regionaler, nationaler Bedeutung und Verantwortung - also ein Vertreter des Staats - den eigenen Untergang ausruft. Die Krisenrhetorik, die so Dresden verließ und kopiert wurde, schuf viel größere Verunsicherung als Pegida möglich gewesen wäre. Außerdem verunsicherte sie die Mehrheitsbevölkerung, erschwerte ihr Engagement und gab den stramm-rechten, neo-nationalsozialistischen Kräften politische Legitimation. Wenn man diese echten Rechten ausgrenzen will, dann muss man ihre Diskurse ablehnen und gleichzeitig staatliches Engagement ausweiten.

Krisenrhetorik der Politik produziert tatsächliche Verunsicherung

Angstformeln wurden aber vielfach zum Inhalt, um sich als ordnende politisch-kulturelle Kraft zu positionieren, selbst bei einem grünen Bürgermeister und in der Linkspartei. Die Krisenrhetorik von Ausnahmezuständen produzierte tatsächliche Verunsicherung, verstärkt durch kognitive Überforderung des Echokammereffekts in den sozialen Medien und die 24-Stunden Berichterstattung entfernter Krisen, die abstrakte Furcht schaffen, obwohl das eigene Lebensumfeld ruhig und das politische System stabil sind. Der Krieg in Syrien, IS, Kopftücher, Burkas, Minarette, Paris, Nizza, Berlin, Amok in München und islamische Gebetsrufe wurden in Hysterie zusammengefaltet.

Trotzdem sprechen sich aber weiterhin große Mehrheiten dafür aus, Menschen aufzunehmen, die vor Krieg fliehen. Die öffentliche Meinung zeigt die Widersprüche der Debatte auf. Umfragen zeigen, dass diejenigen, die Migranten oder Geflüchtete kennen oder sich sogar engagieren, überwiegend Positives berichten. Wenn die AfD in Umfragen 15 Prozent erreicht, dann unterstützt eine große Mehrheit sie nicht. Hunderttausende Deutsche kümmern sich um Geflüchtete, in Sprachkursen, Fördervereinen, Kirchen und anderen Initiativen. Diese Freiwilligen protestieren nicht regelmäßig und erfahren so weniger mediale Aufmerksamkeit als tabubrechende Spektakel, aber das weithin geteilte Lebensgefühl einer freien Gesellschaft steht für eine große Mehrheit nicht infrage. Es gibt Herausforderungen, weil das Leben in einer komplexen Gesellschaft, die sich mit globalen Entwicklungen befasst und von ihnen beeinflusst wird, Herausforderungen geben muss, aber diese stehen in einem Missverhältnis zum Krisendiskurs, Hysterie und Diversitätsangst.

Denn Lebensformen und -räume in Deutschland werden ohnehin kulturell eher ähnlicher, und nicht heterogener. Dies muss als Grundlage für Solidarität angesprochen werden, gerade in gefühlt unsicheren Zeiten, in denen die Furcht vor Heterogenität manipuliert wird. Vor Jahrzehnten hatten sich ein Ostfriese und ein Franke wenig zu sagen; vielleicht sprachen sie nicht einmal dieselbe Sprache. Katholische und protestantische Milieus grenzten die Möglichkeit von Beziehungen und Freundschaften ein. Klassen und regionale Identitäten konditionierten soziales Leben. Heute sind die Unterschiede zwischen verfügbaren kulturellen Angeboten zwischen Stadt und Land gering. Innenstädte von Bayern nach Schleswig-Holstein sehen sich immer ähnlicher. Auch Frauen und Minderheiten sind heute gleichberechtigter - sie schließen zu weißen Männern auf. Die Medienlandschaft vereinheitlicht Öffentlichkeit und Sprache. Dabei darf die Politik aber trotzdem nicht vergessen, dass mittlerweile wieder ökonomische und soziale Unterschiede zwischen dem Land und den Städten, zwischen Zentren und Peripherien entstehen.

Protestgruppen als Produkt globalisierender kultureller Homogenisierung

Protestgruppen wie die Identitären sind vor allem ein Produkt globalisierender kultureller Homogenisierung und nicht etwa die Reaktion auf wachsende Heterogenität. Vereinfachende Diskurse über eine einfach immer diverser werdende Gesellschaft bilden die ambivalente Entwicklung nicht ab. Wir müssen eben auch fragen, inwiefern es diese Homogenisierung ist, die das Bedürfnis nach konkreten, lokalen und praktischen Identitäten bedingt. Nicht alle Menschen teilen den Enthusiasmus der Erasmusgenerationen für globalisierenden Internationalismus, aber auch Skeptiker sollten einen Platz in einer demokratischen Gesellschaft haben und ihr Wunsch nach staatlicher Solidarität und Gerechtigkeit muss politischen Ausdruck finden - und zwar gerade bei linken Kräften.

2015, als in Berlin noch darüber diskutiert wurde, den Volksentscheid zum Tempelhofer Feld zu ändern, um rund um den Hangar Großzelte und Leichtbauten für Geflüchtete zu errichten, veranstaltete die Initiative 100% Tempelhof einen kritischen Informationsabend im Neuköllner Heimathafen. Neben mir saß eine ältere Dame mit einem abgetragenen Mantel. In ihrem alten Jutebeutel war ein Flyer der Linkspartei zu sehen. Nachdem ein SPD-Politiker auf dem Podium erklärt hatte, durch seine private Initiative bereits einigen Geflüchteten Unterkünfte organisiert zu haben, meldete sich meine Sitznachbarin zu Wort. Nachdem ihr ein Mikrofon gereicht worden war, erklärte sie: „Lieber Herr Abgeordneter, wenn es neue Wohnungen für Flüchtlinge und Obdachlose geben soll, wie es im Gesetzentwurf steht, dann würde ich sagen, dass Deutsche diese Wohnungen aber zuerst bekommen und nicht...“ - aber bevor sie ihren Satz beenden konnte, wurde sie vom Moderator der Veranstaltung unterbrochen, begleitet von Buhrufen der Zuschauer. „Wir wollen hier keinen Rassismus“, führte der Moderator aus, „und wir wollen hier keine Nazis. Wir tolerieren keine rassistischen Kommentare. Wem das nicht gefällt, dort ist die Tür.“ Das Publikum unterstützte die Ansage mit lautstarkem Applaus. Neben mir schaute die alte Dame verdutzt um sich. Kurz danach war die Veranstaltung vorbei und der Saal leerte sich. Ein Mann um die Dreißig kam auf uns zu. „Sie haben völlig Recht mit ihrer Aussage,“ erzählt er meiner Sitznachbarin, „wir müssen uns auch um Deutsche kümmern. Ich bin von der AfD und wir glauben, dass hier etwas im Moment sehr falsch läuft. Es ist ganz schlimm, dass man Sie dafür einen Nazi nennt.“ Die Dame nickte und erklärte, dass sie aber eigentlich Linkspartei wählt, doch der AfD-Vertreter ließ sich nicht abbringen und gab ihr seine Kontaktdaten, die sie in ihren Jutebeutel zum Flyer der Linkspartei steckte.

AfD oder Linke?

„Und jetzt?“, fragte ich sie, „AfD oder Linke?“ Sie erklärte mir, dass seit fünf Jahren in einem schrecklichen Obdachlosenheim lebt, was sie in den Wahnsinn treibt. „Ich habe mein ganzes Leben in Berlin verbracht - warum gibt es keine Wohnungen für Leute wie mich? Der Kerl von der SPD gibt damit an, dass er für Flüchtlingen privat Unterkünfte vermittelt hat. Die AfD ist nicht meine Partei, ich bin eine Linke. Aber wer kam auf mich zu und hat mit mir gesprochen? Die AfD. Ich will so oft schreien, nur um endlich mal gehört zu werden.“ Als sie von „Wohnung für Deutsche“ sprach, war das kein Ausdruck rassistischer Überzeugung, sondern sollte darauf aufmerksam machen, dass es schon länger Menschen gibt, die ohne Wohnungen leben müssten und die private Initiative demokratisch gewählter Repräsentanten verdienen. Dafür als Nazi ausgebuht und von der AfD umworben, sprach auch sie davon, nur noch schreien zu wollen, um ihre Anliegen wieder sichtbar zu machen.

Tabubruch ist also oft vor allem eine Strategie, um Aufmerksamkeit zu erlangen und auf Zukunftsangst, Unsicherheit und Forderungen nach aktiven öffentlichen Institutionen hinzuweisen. Auch bei Pegida wollte man gehört werden und richtete Sprache nach dem Skandalfaktor, der aber nicht zwangsläufig auch Inhalt war. Die Stigmatisierung von Minderheiten, Leitkulturdebatten oder Burkaverbote können das Zusammenleben in Deutschland nicht positiv beeinflussen, denn sie beantworten nur oberflächlich Anliegen und verunsichern dabei die Mehrheitsgesellschaft. Damit wird demokratischer Pluralismus entwertet und die tatsächliche Ursache von Protestbewegungen ignoriert: Nämlich die Erfahrung mangelnder staatlicher Solidarität aufseiten verunsicherter Bevölkerungsteile in Zeiten von rapider, globalisierender Transformation. Staatliche Institutionen haben mit größerer Aktivität zu reagieren, um der Spaltung in Zentrum und Peripherie, Stadt und Land etwas entgegenzusetzen. Sie müssen Begegnungsräume schaffen, die entfremdenden Arbeitswelten und individualisierender Freizeitgestaltung entgegenwirken und Solidarität fördern. Die Ursachen von Unsicherheit und Frust mit der politischen Ordnung sind nicht vorrangig kulturell-religiös, sondern liegen hauptsächlich in politischer Ökonomie. So müssen sie auch beantwortet werden, gerade um tatsächlichen Rassismus von Frust und Angst zu trennen und die offene, solidarische, demokratische Gesellschaft zu stärken.

Jan-Jonathan Bock ist Sozialanthropologe am Woolf Institute in Cambridge. Er arbeitet an einem Forschungsprojekt über die Verbindungen zwischen Krisenwahrnehmungen, kultureller Diversität und Vertrauen, welches die gegenwärtigen politischen und sozialen Realitäten in Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien vergleicht.

Jan-Jonathan Bock

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