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Fereshta Ludin bekam 2003 vor dem Verfassungsgericht Recht - in den Staatsdienst kam sie dennoch nicht.

© Björn Kietzmann

Kopftuch und Neutralität: "Wir Frauen wollen bestimmen. Wir, nicht ihr!"

Die Lehrerin Fereshta Ludin klagte als erste gegen das Kopftuchverbot in der Schule. Hier schreibt sie über ihre Wut und Enttäuschung über das, was seitdem geschehen - und nicht geschehen ist.

Liebe Befürworterinnen des Neutralitätsgesetzes, liebe Gegnerinnen des Kopftuches in der Schule, im öffentlichen Dienst und anderswo,

es ist schon bemerkenswert, dass aus der Geschichte der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verbannung anders aussehender und glaubender Menschen in Deutschland absolut nichts gelernt wurde. Seit 1998, also seit sage und schreibe zwanzig Jahren, reden wir über „Kopftücher raus aus der Schule!“, „Kopftücher raus aus dem System“, „Kopftuchlehrerinnen raus“ aus allem, was für unsere Kinder, Kunden und Co eine Zumutung sein könnte. „Das Stück Stoff“ muss einfach: Raus! Am besten überall. Unangenehme Erscheinungen gehören nicht zu unserem Stadt- und Weltbild.

Die Muslima unter diesem Stück Stoff steht für alles Niedere, Minderwertige, sie ist unterdrückt, nicht gleichberechtigt, arm, ungebildet, altmodisch, hilfsbedürftig, orientalisch, hinterwäldlerisch, zurückgeblieben, fanatisch und altertümlich. Also all das, wovon man/frau sich gern distanziert, um nicht in falschem, seltsamen, bedrohlichen Licht zu erscheinen.

Wir glauben an die Verfassung - und an Emanzipation

Ist eine Muslima all das, was euch angst und bange werden lässt? Habt ihr denn traumatische Erfahrungen mit uns gemacht? Steht ein muslimisches Tuch per se nicht mit unserem europäischen Weltbild im Einklang? Ist dann das Ablegen eines Tuches ein Zeichen der Solidarität mit euch, und daher ein Tuch zu tragen ein Zeichen von Gegnerschaft? Und reicht es euch, wenn wir das Tuch ablegen, damit ihr uns als integre und gute Staatsdienerinnen anerkennt?

Warum kämpft ihr so hart dafür, uns die Tücher vom Leibe zu reißen?

Wir sind Menschen. Keine Fälle und verstaubten Akten, die ein „Neutralitätsgesetz“ beseitigen und schreddern kann. Wir sind Menschen mit einem hohen Anspruch an Emanzipation, Würde und Liberalität. Wir glauben an die Demokratie. Wir glauben an die Verfassung. Und wir glauben an die Grundrechte darin, die auch uns zustehen und auch für uns, für dich und mich geschaffen sind. Unser Körper gehört uns. Wie oft müssen Frauen wie ich es noch sagen, bis man uns glaubt: Wieviel Körper und Kopfhaar wir sichtbar werden lassen wollen oder nicht, wollen wir selbst bestimmen. Ob wir ein Tuch tragen oder nicht, wollen wir bestimmen.

Bedrohlich ist, was auf das Tuch projiziert wird

Wir Frauen. Wir, nicht ihr! Wir glauben daran, dass jede Frau das Recht hat, selbstbestimmt einen Glauben zu haben. Auch ob sie ihre Haare bedeckt oder ihren Ausschnitt und Beine zeigt, bleibt ihre Entscheidung. Achtung vor Andersdenkenden ist etwas, das Deutschlands Merkmal bleiben sollte. Deutschland ist weder weiß noch braun noch farblos. Es ist bunt! Die Menschen in Deutschland sind bunt. Lehrer und Lehrerinnen sind bunt. Jeder auf seine Art ein Vorbild. In ihrem Aussehen und der Bekleidung. In ihrer Herkunft und Kultur. In ihrem Wesen und menschlichem Umgang. In ihrer Identität bunt.

Wir können die unterschiedliche Entwicklung der Kulturen und Prägungen der Menschheitsgeschichte weder bei uns noch anderswo ablehnen, leugnen oder verbieten. Ihre Sichtbarkeit zu verbieten heißt,  jegliche kulturelle und religiöse Erscheinung zu verleugnen.

Bedrohlich sind Menschen und Bewegungen, die nur das eine zulassen und die Vielfalt abstreiten und auslöschen.

Bedrohlich ist vor allem, dass eine Gruppe von Frauen, die bereits als Frauen Diskriminierungen erfahren, noch mehr Diskriminierung erleiden, weil sie mit Kopftuch, egal ob sie kulturelle oder religiöse Gründe dafür haben, nicht arbeiten dürfen und schon gar nicht als Vorbilder oder Repräsentantinnen eines Staates toleriert und geduldet werden.

Bedrohlich ist, in ein Tuch so viel zu projizieren, dass die Trägerin nicht mehr als Mensch wahrgenommen wird.

Ich will meine Menschenwürde zurück

Ich und viele andere wollen, dass das aufhört! Endlich aufhört! Wir erleben seit Jahren einen enormen sozialen, gesellschaftlichen, politischen, medialen und kulturellen Druck, nicht das sein zu dürfen, was wir sein wollen.

Wir wollen als Menschen wahrgenommen werden. Wir wollen in unserer Art der Weiblichkeit wahrgenommen werden.

Und eins noch: Wir haben selbst Kinder, Schwestern oder Brüder, die zur Schule gehen, die tagtäglich mit Lehrerinnen und Lehrern zu tun haben. Lehrerinnen tragen lange, kurze, enge, weite Kleider, Hosen und Shorts. Sie tragen hohe Kragen, tiefe Ausschnitte, Kleidung mit dicken und hauchdünnen Stoffen, dicke und dünne Socken, Schuhe mit niedrigen und hohen Absätzen. Bunte, einfarbige, schwarze und dunkle Kleidung, triste und fröhliche Kleidung. Warum kein Tuch auf dem Kopf?

Ich möchte, dass meine Kinder endlich nicht mehr mit dem Gefühl aufwachsen müssen, dass ihre Mutter nicht würdig ist, an einer Schule zu arbeiten, oder gar anderswo. Ich will, dass mir meine Menschenwürde vor meinen Kindern zurückgegeben wird. Ich möchte in Würde leben und arbeiten,  als Teil der Gesellschaft gleichberechtigt und gleichgestellt mitwirken. Auf Augenhöhe.

Fereshta Ludin

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