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Kulturdenkmal: Jemen: Neun Etagen Angst

Jahrhundertelang waren es vor allem Regenfluten, die den berühmten Lehmhochhäusern von Shibam zusetzten. Nun aber ist eine neue Bedrohung für das jemenitische Kulturdenkmal aufgetaucht: der Terrorismus

Er ist leicht zu übersehen. Seit dem frühen Morgen hockt der alte Mann im Schatten der hohen Mauer. Über ihm thront der frühere Sultanspalast, gegenüber schimmert weiß im Sonnenlicht die Moschee. Auf dem Vorplatz schnattern Kinder, ein paar Ziegen meckern. Man könnte ihn für einen der vielen Betagten halten, die an ihrem Lebensabend noch etwas am Treiben der Jüngeren teilhaben wollen. Doch Said Islam Ba-Sauwatain, der sein Alter mit „mehr als 76 Jahren“ angibt, ist ein gefragter Mann. Er gehört zu der Handvoll Menschen auf Erden, die wissen, wie man aus Lehm Hochhäuser baut. Der zierliche Mann mit dem dunkelbraunen, rauen Gesicht, knolliger Nase und weißem Spitzbart hat keine Schule und keine Universität besucht. Dafür trägt er ein einzigartiges Know-how in seinem Kopf – seit der Antike von Generation zu Generation weitergereicht. Er ist einer der letzten noch vier lebenden Großbaumeister der Stadt.

Harmonisch, wehrhaft und trutzig – schon 2000 Jahre steht Shibam mitten im Wadi Hadramaut wie ein Fels in der Brandung, erbaut gegen alle Vernunft und im nie endenden Kampf gegen die sommerlichen Wasserfluten. Hier standen die ersten Wolkenkratzer der Menschheit, nicht aus Stahl und Beton, sondern aus Lehmziegeln und Holz. „Manhattan der Wüste“ nennen seine Bewunderer das einzigartige Ensemble.

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Islam Ba-Sauwatain, einer von vier noch lebenden Baumeistern.

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437 der erdfarbenen Giganten mit den weiß gekalkten Dachhauben, schnurgeraden senkrechten Fensterreihen und ihrem angenehm kühlen Inneren pressen sich auf einem Areal von 500 mal 500 Metern aneinander. Die größten Exemplare erreichen mit neun Stockwerken fast zwanzig Meter, nach Meinung von Statikern die maximal mögliche Höhe mit diesem Baumaterial. Warum gerade hier, im breiten Tal von Hadramaut, warum ausgerechnet Hochhäuser – die Wissenschaftler haben es aufgegeben, für diese Rätsel Lösungen zu finden.

Für die sensiblen Lehmgiganten, die im Schnitt 300 Jahre alt werden, ist Baumeister Ba-Sauwatain der Hausarzt, manchmal auch der Notarzt. Wenn einem der Häuser etwas fehlt, kommen die Besitzer zu seinem schattigen Plätzchen und holen ihn. „Meine Augen sind nicht perfekt, aber noch gut genug“, schmunzelt er, während er den Kopf in den Nacken legt und einen der erdigen Patienten von oben bis unten mustert. Wo der kleine alte Mann danach mit seinem Spazierstock hinzeigt, da muss etwas geschehen. Droht gar ein Einsturz, ordnet er an, wo von außen Stützen angebracht werden müssen, um die Katastrophe abzuwenden. „Solange al Arouz intakt ist, kann man jedes Haus reparieren“, erklärt er. Al Arouz heißt wörtlich übersetzt „die Braut“ und bezeichnet die zwei mal zwei Meter dicke Mittelsäule aus Holz und Lehmziegeln, die das statische Rückgrat jedes Wolkenkratzers bildet. Um al Arouz herum winden sich die Treppenstiegen, von hier zweigen die Räume ab. Alle Wände sind einen halben Meter dick. Und die Etagen genau geordnet: Im Erdgeschoss befinden sich die Lagerräume, eine Treppe höher sind die Tierställe. Im dritten Stock leben die Männer und darüber Frauen und Kinder.

Die Bewohner des Hadramauts gelten als die Schwaben des Jemen: findig und verschlossen, konservativ und sparsam, und von Alters her mit einer Leidenschaft für Hausbau und technische Tüfteleien gesegnet. Die sonst im Land üblichen traditionellen Krummdolche an den Gürteln der Männer sieht man hier nicht, das Kauen der Volksdroge Kath ist verpönt. „Die Hadramautis sind sehr liebenswürdig, friedlich und harmonisch, aber sie machen es jedem von außen schwer“, sagt der deutsche Architekt Tom Leiermann, der als einziger Ausländer seit sieben Jahren in Shibam wohnt und eine einheimische Frau geheiratet hat.

Bereits in römischer Zeit kamen die eigenwilligen Bewohner zu Wohlstand durch den Handel mit Weihrauch, den die antiken Herrscher in Rom für die Tempelrituale brauchten. Als Kolumbus mit seiner Flotte gen Westen aufbrach, segelten die Händler Shibams gen Osten, handelten Gewürze und Stoffe mit Asien und Indien. Heute hat jede dritte Familie Verwandte in Malaysia, Indonesien, auf den Komoren oder in Südindien – auch die väterliche Familie von Osama bin Laden stammt aus der Region.

Und genau wie am 11. September 2001 das echte Manhattan in New York, nahmen Al-Qaida-Terroristen jüngst auch die architektonische Schwester aus Lehm ins Visier. Im Frühjahr heuerten sie einen 16-Jährigen aus der Nachbarstadt Tarim an. Die ahnungslosen Bewohner Shibams sahen ihn stundenlang in den Gassen und im Teehaus herumlungern. Als am Abend eine 20-köpfige südkoreanische Reisegruppe von der Aussichtsplattform am Berghang noch ein Abschiedsfoto von der Silhouette machen wollte, schlich er ihnen nach und sprengte sich in die Luft. Fünf Menschen starben, vier wurden verletzt. Die alleinerziehende Mutter des Selbstmordattentäters sagte später aus, sie und ihre Kinder hätten seit Tagen nichts mehr zu essen gehabt.

Seit dem Anschlag ist der Tourismus zum Erliegen gekommen. Besucher meiden Shibam, die Andenkengeschäfte sind ohne Kunden, alle Hotels in der Region leer. Ausländische Hilfsorganisationen überlegen, ob sie ihr Personal abziehen. Und die Einheimischen fürchten um den Ertrag der jahrelangen Mühen um eine Wiederbelebung ihrer weltberühmten Stadt.

Doch erschüttert ist nicht nur Shibam, der ganze Jemen taumelt inzwischen dem Abgrund entgegen. 20 Jahre nach seiner Wiedervereinigung sinkt das Land an der Südspitze der arabischen Halbinsel Monat um Monat tiefer ins Chaos – das Wort von einem zweiten Afghanistan macht bereits die Runde. Das eigene Öl, das zu 70 Prozent den Staatshaushalt finanziert, geht zur Neige. Die Hauptstadt Sanaa wird bald ohne Trinkwasser sein, weil die fossilen Speicher unter der Millionenmetropole nahezu leer gepumpt sind. Im Norden tobt ein offener Bürgerkrieg. Der Süden rebelliert und will heraus aus dem Staat, der nicht mehr funktioniert. Und die zweite Generation von Al Qaida operiert immer ungehinderter – vor allem im Zentrum des Landes, im Hadramaut. 18 Attentate in der Region gehen in diesem Jahr bereits auf ihr Konto. „Dies ist die Rache für unsere Brüder, die hier in den Gefängnissen sitzen“, hieß es im jüngsten Bekennerschreiben der Terrororganisation, nachdem zwei hohe Offiziere und drei Soldaten auf einer Überlandstraße mit ihrem Wagen in einen tödlichen Kugelhagel geraten waren. In Shibams Nachbarstadt Zayun zündete ein Selbstmordattentäter seinen Wagen auf dem Hof einer Polizeistation. Ein Beamter starb, 17 Menschen wurden verletzt.

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Düstere Perspektiven also für die Bewohner, die ihr „Manhattan in der Wüste“ in den letzten zehn Jahren in zähem Kampf vor dem Verfall gerettet haben. Zuvor war die Hälfte der 7000 Einwohner weggezogen, ein großer Teil der Häuser blieb verlassen und unbewohnbar. Heute sind zwei Drittel aller Lehmtürme instand gesetzt, mit Wasserleitungen und Bädern ausgestattet. Die Stadt ist wieder voll bewohnt und hätte in normalen Zeiten das Zeug zu einem globalen Touristenmagneten.

Kräftig mit angepackt hat auch die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Die ersten drei Jahre habe man gebraucht, „um mit den Leuten warm zu werden und ihr Vertrauen zu gewinnen“, erzählt Projektleiter Ahmed Abdullahi, der eigentlich aus Somalia stammt und seine Familie in Deutschland hat. Heute existiert von jedem Bauwerk in der Hängeregistratur der GTZ eine eigene Diagnosekarte – alle Etagen sind gezeichnet, alle Probleme aufgelistet, alle Reparaturen dokumentiert und alle Finanzmittel addiert. Zwei Drittel der Kosten tragen die Bewohner selbst, rund 18 Millionen Euro steuerte die GTZ bisher bei und hat so für viele einheimische Familien Arbeit geschaffen. „Nur wenn die Menschen ein Auskommen haben, werden sie sich um ihre Stadt kümmern und sie erhalten“, sagt Projektleiter Ahmed Abdullahi.

„Die Attentate sind schwere Rückschläge für uns“, seufzt der Imam von Shibam, Scheich Omar Salem Ba-Obaid. In sein Haus führt eine schwere Holztür mit fein geschnitzten Mustern. Der weiß gekleidete Geistliche ist nicht nur der oberste Hüter des Glaubens, sondern auch oberster Wächter über das kostbare Wasser. Nach dem Mord an den koreanischen Touristen stieg er in der Moschee auf die Kanzel und hielt eine Mahnpredigt. „Wer das getan hat, wer dabei geholfen hat oder auch nur innerlich zugestimmt hat, sei verdammt“, rief er aus. „Stellt euch vor, eure Verwandten kämen nach einem Besuch in einem fernen Land im Sarg zurück.“

Der Scheich hat etwas von der Welt gesehen. Lange arbeitete er in Dubai als Übersetzer für japanische Geschäftsleute, bevor er auf islamische Theologie umsattelte und sieben Jahre in Ägypten an der al-Azhar-Universität studierte. Und er weiß, dass der neue Gegner Al Qaida seiner Heimatstadt aus Lehm genauso gefährlich werden kann wie der ewige Gegner, das Wasser.

„Zu Zeiten meines Vaters gab es zehn bis zwölf Fluten im Jahr“, sagt er und deutet auf die bunte Karte an der Wand. Das rote Shibam-Quadrat in der Mitte ist umgeben von dünnen und dicken blauen Linien. Dieses Netz überlebenswichtiger Bewässerungskanäle halten Ba-Obaid und seine Helfer in der Trockenzeit sauber. Früher hat es hier nie länger als einige Stunden geregnet, die ausgeklügelten Fließsysteme und Ausgleichsflächen um den Stadthügel herum konnten die Wassermassen ohne größere Schäden verdauen. Heute aber regne es nur noch zwei- bis dreimal im Jahr, dann aber sehr heftig, sagt der 44-Jährige. Zwei Tage Dauerregen, wie bei der großen Flut im Oktober 2008, „hat es hier seit Menschengedenken nicht gegeben“. Noch einen Tag mehr „und Shibam wäre zu einem erheblichen Teil zerstört worden“.

Die Spuren dieser Beinahekatastrophe aus dem Himmel kam man noch an zahlreichen Lehmfassaden ablesen, die nun alle Zug um Zug wieder repariert werden müssen. „Mir ist noch nie etwas Schlimmeres passiert“, sagt Salah Jumaan Ba-Saida, während ihn sein Kollege aus schwindelnder Höhe langsam auf einem hölzernen Sitzbrett herablässt. An dem fünfstöckigen, über 200 Jahre alten Gebäude trägt er eine neue Außenhaut auf. Mit routinierten Bewegungen klatscht der 35-Jährige den feuchten Lehm an die Wand und streicht ihn mit einer kleinen Holzlatte glatt. Den Rest besorgt die Sonne. In drei Wochen ist alles fertig, sagt er, dann hält das Lehmkleid wieder für die nächsten 50 Jahre. Wenn nicht wieder ein Wolkenbruch dazwischenkommt – ein klimatischer oder ein politischer.

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