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Erster Schritt: Missbrauchsbericht fordert Geld, Betreuung und ein offenes Ohr

Die unabhängige Beauftragte der Bundesregierung, Bergmann, fordert öffentliche Hilfe für Betroffene – Opfergruppen würdigen Arbeit der früheren Ministerin.

Als der Freund ihrer Mutter sie ins Bett holte und ihr die Bettdecke über den Kopf zog, war sie fünf Jahre alt. Damals hatte der Freund ihrer Mutter sie zum ersten Mal zum Oralsex gezwungen. Und dann immer wieder, im Wald, auf der Toilette oder zu Hause, wenn die Mutter ahnungslos in der Küche stand.

Als sie endlich ihr Schweigen brach und ihr Leid in einem Brief niederschrieb, war sie eine erwachsene Frau von 66 Jahren. Sie schrieb den Brief am 21. September 2010 – an Christine Bergmann, die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauches.

Es ist einer von 2087 Briefen, welche die frühere SPD-Familienministerin zwischen April 2010 und März 2011 erreichten. Gestern hat Bergmann ihren Abschlussbericht vorgestellt, der aber eigentlich auch nur eine Zwischenbilanz ist. Christine Bergmanns Arbeit ist damit zwar beendet, aber die Arbeit von Therapeuten und Beratungsstellen in Deutschland hat erst begonnen. „Unsere Empfehlungen können nur ein erster Schritt sein“, sagte Bergmann am Dienstag.

11395 Anrufe gingen bislang bei der Hotline der Missbrauchsbeauftragten ein, fast zwei Drittel der Betroffenen, die sich gemeldet haben, waren Frauen. Sie waren zwischen sechs und 89 Jahre alt. Im Schnitt waren die Opfer, die teilweise jahrzehntelang geschwiegen hatten, 40 Jahre alt.

Den Betroffenen muss weiterhin geholfen werden, das machte Bergmann sehr deutlich. „Überall, wo wir hingeschaut haben, da haben wir drei neue Baustellen entdeckt“, sagte sie. Zusammen mit Experten, welche die Aufarbeitung wissenschaftlich betreut haben, fordert sie auch finanzielle Entschädigung für die Opfer, auch wenn die Fälle verjährt sind. Wo Mitarbeiter von Institutionen zu Tätern wurden, sollen auch die Institutionen zahlen, die Kirchen zum Beispiel oder Schulen, Internate oder auch Jugendhäuser. 60 Prozent der Betroffenen, die sich bei Bergmann gemeldet haben, wurden allerdings innerhalb der Familie missbraucht. Ihnen soll der Bund Entschädigung zahlen, fordert Bergmann. Notwendige Mittel sollen in einen entsprechenden Fonds eingezahlt werden. Die Höhe der Entschädigung soll sich an dem Schmerzensgeld orientieren, das dem jeweiligen Opfer vor Gericht zugesprochen würde, wenn die Tat noch nicht verjährt wäre.

Eine unabhängige Clearingstelle, ein übergeordnetes Gremium soll die Anträge prüfen. Diese Stelle soll mit Psychotherapeuten, Ärzten und einer Sozialrichterin besetzt sein. Es sei allerdings nicht zumutbar, dass die Betroffenen ihr Leiden wie bei einer gerichtlichen Beweisführung dokumentieren müssen. Wenn der Fall „plausibel“ dargestellt werde, genüge das.

Außerdem mahnten Bergmann und ihr Team an, dass die therapeutische Betreuung der Opfer verbessert werden müsse. Die Krankenkassen zum Beispiel sollten ein breiteres Spektrum an Therapien finanzieren, etwa auch Trauma-Therapien. Auch gebe es zu wenig Beratungsstellen für Männer, und besonders in ländlichen Regionen fehle es an Anlaufstellen. „Die Beratungsstruktur hat Lücken“, sagte Bergmann. Überdies müssten Psychotherapeuten gezielt fortgebildet werden. Bergmann appellierte außerdem an die Öffentlichkeit, die Missbrauchsfälle in DDR-Einrichtungen aufzuarbeiten, vor allem im Jugendwerkhof Torgau. „Da ist es dringend nötig, dass man etwas tut.“

Initiativen von Betroffenen lobten die Arbeit der Missbrauchs-Beauftragten. „Bergmann und ihr Team haben ein Gesamtpaket vorgelegt, mit dem eine Befriedung zwischen den Betroffenen und den Institutionen gelingen kann“, sagte Matthias Katsch von der Initiative „Eckiger Tisch“, die Menschen vertritt, die als Jugendliche in Jesuitenschulen missbraucht wurden. „Es wäre großartig, wenn sich die katholische Kirche den Empfehlungen anschließen würde und zum Beispiel die Betroffenen individuell entschädigt nach dem Kriterienkatalog, den Bergmann vorgelegt hat.“

Auch Anselm Kohn von der Gruppe „Missbrauch in Ahrensburg“ würdigte die Arbeit von Bergmann und ihrem Team. „Der Bericht hat epochale Bedeutung, auch weil er auf den fachlichen Nachholbedarf bei Therapeuten, Anwälten und Richtern hingewiesen hat.“ Die Empfehlung, ein unabhängiges Gremium soll über Entschädigungen entscheiden, gefällt ihm. „Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Opfer gleich behandelt werden. Das darf nicht den Kirchen überlassen bleiben.“ Im norddeutschen Ahrensburg hatte ein evangelischer Pastor Kinder und Jugendliche missbraucht.

Allerdings sind Bergmanns Forderungen lediglich Empfehlungen an die Politik. Wie viele ihrer Empfehlungen umgesetzt werden, ist derzeit offen. „Ich werde in nächster Zeit mit den betreffenden Ministerien sprechen“, sagte die frühere Familienministerin. „Aber ich bin optimistisch, es ist etwas in Bewegung gekommen, der öffentliche Druck ist gestiegen.“ Die Empfehlungen gehen jetzt an den Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“, der noch bis Ende Oktober tagen wird.

Auch die telefonische, kostenlose Hotline für Betroffene (0800-2255530) ist weiterhin geschaltet. Dass die Nummer unverändert intensiv gewählt wird, stellte Jörg M. Fegert klar, der Ärztliche Direktor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Ulm, der die Briefe und die Anrufe der Opfer wissenschaftlich auswertet. „Täglich“, sagte Fegert, „kommen noch 40 Anrufe.“

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