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Oskar Lafontaine. Ex-Linkenchef und Autor dieser Polemik.

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Oskar Lafontaine exklusiv: Sozialisten sind die wahren Liberalen

Für Oskar Lafontaine ist der Sozialismus "nichts anderes als ein zu Ende gedachter Liberalismus". Die heutige FDP dagegen hätte einen "pervertierten Begriff von Freiheit und von einem ‚mitfühlenden Liberalismus’ könne schon gar keine Rede sein". Eine Polemik.

Vor 40 Jahren, 1971, veröffentlichte der FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach seine Streitschrift: „Noch eine Chance für die Liberalen“. Die orientierungslos gewordene FDP wäre gut beraten, diese Schrift noch einmal zu lesen. Der Liberalismus des Freiburger Programms war links. Die Kernforderungen dieses Programms werden heute nur von der Partei Die Linke vertreten.

Die Idee der Freiheit finden wir in den Programmen aller politischen Parteien. Der Sozialismus beruft sich ebenso auf sie wie der Liberalismus. Für mich war und ist der Sozialismus nichts anderes als ein zu Ende gedachter Liberalismus. Die Begründung dafür finden wir in einem der bemerkenswertesten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe: „Freiheit als Privileg“ von Domenico Losurdo, das 2010 im PapyRossa Verlag erschien. In ihm weist der italienische Philosoph nach, dass die Liberalen in ihrer Parteiengeschichte die Freiheit in der Regel als Privileg einer Minderheit verstanden haben. Die Theoretiker des Liberalismus hatten kein Problem, das hohe Lied der Freiheit zu singen und gleichzeitig die Unfreiheit und Unterdrückung ganzer Völker und benachteiligter Gesellschaftsschichten zu rechtfertigen. So schrieb der Aufklärer Condorcet im 18. Jahrhundert über das Amerika der liberalen Sklavenhalter George Washington, Thomas Jefferson und James Madison: „Der Amerikaner vergisst, dass die Neger Menschen sind; er hat zu ihnen keinerlei moralische Beziehung; sie sind für ihn lediglich Objekte des Profits.“ Diese Zeiten sind doch längst vorbei, wird man einwenden. Aber ist das wirklich so? Heute bezeichnen viele die Leiharbeit als moderne Form der Sklaverei. Wäre das Urteil: „Der Neoliberale vergisst, dass Leiharbeiter, Aufstocker oder 1-Euro-Jobber Menschen sind. Er hat zu ihnen keinerlei moralische Beziehungen; sie sind für ihn lediglich Objekte des Profits“ eine unzulässige Polemik? So lange die heutigen Liberalen den Arbeitsmarkt deregulieren und die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse beschleunigen, haben sie einen pervertierten Begriff von der Freiheit und von einem „mitfühlenden Liberalismus“ kann schon gar nicht die Rede sein.

Freiheit ist das Recht eines jeden Menschen, sein Leben so weit wie möglich selbst zu bestimmen. Begrenzt wird dieses Recht durch den gleichen Anspruch der Mitmenschen. Wer am Monatsende nicht weiß, ob er noch genug Geld hat, sich und seine Familie zu ernähren, ist nicht frei. Und junge Menschen, die von einem befristeten Arbeitsverhältnis zum nächsten weitergereicht werden, scheuen davor zurück, eine Familie zu gründen. Es ist auch kein Zufall, dass der japanische Atomkonzern Tepco Leiharbeiter in die verstrahlten Reaktoren schickte. Solche Praktiken zeigen die hässliche Fratze einer Wirtschaftsordnung, in der die Freiheit als Privileg einer Minderheit begriffen wird.

Karl-Hermann Flach schrieb: „Der Liberalismus hat nach seinem großen und erfolgreichen Kampf um geistige Freiheit, bürgerliche Rechte und verbriefte Verfassung teilweise versagt, ließ sich als Interessenvertreter privilegierter Schichten missbrauchen …“ Daran hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert. Die Liberalen tragen wie kaum eine andere Partei Mitverantwortung für die immer ungerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung. Für Karl-Hermann Flach bedeutete Liberalismus nicht Freiheit und Würde einer Schicht, sondern persönliche Freiheit und Menschenwürde der größtmöglichen Zahl. Freiheit und Gleichheit, so schrieb er in sozialistischer Denktradition, sind nicht nur Gegensätze, sondern bedingen einander. Der Kapitalismus, als vermeintliche logische Folge des Liberalismus, laste auf ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus sei daher die Voraussetzung seiner Zukunft.

Der Sozialismus ist zu Ende gedachter Liberalismus

Was würden die neuen jungen Männer der FDP wohl sagen, wenn ihnen einer erklärte, die Befreiung des Liberalismus vom Kapitalismus sei die Voraussetzung seiner Zukunft? Würden sie es überhaupt verstehen? Karl-Hermann Flach hatte die freiheitsgefährdende Rolle der immer stärker werdenden Vermögenskonzentration erkannt: „Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu einer immer größeren Ungerechtigkeit führten, welche die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Zahl kleiner Gruppen unerträglich einschränkt. Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Sicherung der lohnabhängigen Massen zu einer Disparität, welche der Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht.“

Die Liberalen des Freiburger Programms stellten noch die Eigentumsfrage: Was gehört aus welchen Gründen wem? Nur wenn man diese Frage beantwortet, kann man der ungerechten Vermögensverteilung zu Leibe rücken. Abraham Lincoln erkannte bereits 1847: „Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit entstanden, woraus von Rechts wegen folgen sollte, dass diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt haben. Aber es hat sich zu allen Zeit so ergeben, dass die einen gearbeitet haben und die anderen – ohne zu arbeiten – genossen den größten Teil der Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt werden.“

Das wird aber bis zum heutigen Tage fortgesetzt und hat sich als allein denkbare und gültige Wirtschaftsordnung so in den Köpfen festgesetzt, dass auch Gesetzesvorschriften, die eine andere Eigentumsverteilung nahelegen, nicht mehr beachtet werden. Im § 950 des BGB steht: „Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache.“ Man kann es drehen und wenden, wie man will. Nach unserem BGB gehören die VWs nicht den Piëchs und die BMWs nicht den Quandts oder Klattens, sondern den Beschäftigten, die durch Verarbeitung und Umbildung mehrerer Stoffe eine bewegliche Sache, das Auto, hergestellt haben. K. H. Flach kam auf den Punkt: „Das Problem des Kapitalismus besteht nicht darin, dass Unternehmer Gewinne erwirtschaften und entnehmen, sondern darin, dass die ständig notwendige Reinvestition des größten Teils der Gewinne nicht nur moderne Produktionsanlagen und Arbeitsplätze schafft, sondern eine ständige Vermögensvermehrung in der Hand der Vorbesitzer der Produktionsmittel.“ Daraus folgt, dass die ständige Vermögensvermehrung vor allem den Arbeitnehmern zugute kommen muss und nicht den Besitzern der Produktionsmittel. Diese Einsicht dürfte den heutigen Liberalen schwerfallen.

Man kann ihnen aber eine Brücke bauen, damit sie zu neuen Einsichten kommen. Die notwendige Reinvestition des größten Teils der Gewinne in moderne Produktionsanlagen geht im Finanzkapitalismus immer weiter zurück. Statt zu investieren tragen Anteilseigner oder Manager immer größere Teile der Gewinne ins Spielkasino.

Wenn schon die Forderung nach der Befreiung des Liberalismus vom Kapitalismus bei der heutigen FDP-Führung auf totales Unverständnis stoßen dürfte, so sollte doch die Aufgabe, die Investitionen und Forschungsausgaben der Unternehmen wieder zu steigern, jedem Liberalen ein vorrangiges Anliegen sein.

Eine weitere Möglichkeit auf den Pfad der Tugend zurückzukehren, bestünde für die Liberalen darin, sich die Gedanken der ordoliberalen Freiburger Schule wieder anzueignen. Die Ökonomen um Walter Eucken und Wilhelm Röpke sahen nicht im Privateigentum sondern im Wettbewerb den eigentlichen Antriebsmotor der Wirtschaft. Bei ihnen ging es nicht nur um die Kontrolle wirtschaftlicher Macht, sondern um deren Verhinderung. Zum Erhalt und zur Wiederherstellung des Wettbewerbs forderten sie das Eingreifen des Staates durch Kartellgesetze. Die Entwicklung im Finanzsektor zeigt exemplarisch, wie wirtschaftliche Macht missbraucht wird. Die privaten Banken und Finanzdienstleister haben sich längst selbst verstaatlicht, weil sie so groß geworden sind, dass der Staat sie im Falle des Konkurses nicht fallen lassen kann. Die Freiburger Ordoliberalen würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie dem Treiben der heutigen Wirtschaftspolitiker zuschauen könnten. Ein Gesetz sollte festlegen, dass das Bilanzvolumen keiner Bank in Deutschland größer sein darf als 10 Prozent des BIP. Die Deutsche Bank beispielsweise könnte dann allenfalls eine Bilanzsumme von 250 Milliarden haben, nicht aber eine von 2000 Milliarden. Ein die Bilanzen der Geldhäuser beschränkender Gesetzentwurf stünde den Liberalen gut zu Gesicht.

Der Kapitalismus lastet auf dem Liberalismus wie eine Hypothek

Wie schön wäre es, wenn im Grundsatzprogramm einer liberalen Partei der Satz stünde: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“. Walter Eucken begründete diese Maxime so: „Haftung ist nicht nur eine Voraussetzung für die Wirtschaftsordnung des Wettbewerbs sondern überhaupt für eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen.“

Die Neoliberalen aller Parteien kennen heute Selbstverantwortung nur noch als die Eigenverantwortung der Hartz-IV- Empfänger, aus ihrer „selbst verschuldeten“ sozialen Notlage herauszufinden. Eine Gesellschaft, die die Selbstverantwortung ganz unten reklamiert, während sie sie bei den oberen Zehntausend außer Kraft setzt, ist nur noch pervers. Die viel geschmähte „soziale Hängematte“ ist moralisch weitaus eher vertretbar als der goldene Fallschirm, mit dem man Pleitebankern den Abschied versüßt. Zum Sozialstaat schrieb K. H. Flach: „Der Rechtsanspruch auf Sozialversicherung ist in Wahrheit der wichtigste Besitztitel in der industriellen Massengesellschaft. Nicht der ist wahrhaft frei, der alle Lebensrisiken selbst trägt, sondern derjenige, dem die Angst vor unverschuldeter Not, unberechenbaren Risiken und vor dem Alter genommen wird.“ Wie die Sozialisten sieht Flach im Sozialstaat die notwendige Voraussetzung einer freiheitlichen Gesellschaft. Hier findet die Maxime, dass Freiheit und Gleichheit einander bedingen, ihre Begründung. Mit Gleichheit sind nicht gleiches Aussehen, gleiches Einkommen oder gleiches Vermögen gemeint sondern, dass alle Menschen in ihrer Würde gleich sind. Die menschliche Würde kann nicht in Zahlen ausgedrückt oder berechnet werden. „Im Reich der Zwecke hat alles seinen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preisen erhaben ist, mithin kein Äquivalent gestattet, das hat eine Würde“, schrieb der Philosoph Immanuel Kant.

Der Neoliberalismus, der die Beschäftigten zu „Kostenstellen mit zwei Ohren“ herabwürdigt, verfehlt das Wesen des Menschen. „Die übergroße Mehrheit der Menschen unterliegt aber den Anpassungszwängen der industriellen Arbeitswelt. Sie sind daher an eine Objektivierung der Herrschaftsverhältnisse in den Betrieben und einer sauberen Legitimierung wirtschaftlicher Macht brennend interessiert. Die Bürgerrechte gegenüber dem Staat festzulegen und zu stärken, war die große liberale Leistung des 19. Jahrhunderts. Die Bürgerrechte am Arbeitsplatz zu stärken, ist die liberale Aufgabe des 20. und 21. Jahrhunderts … Der gleiche Staatsbürger, der seine Gesetzgebungsorgane wählt, auf die Bildung seiner Regierung einen gewissen Einfluss nehmen kann und durch ein System öffentlicher Information und Diskussion an der Kontrolle seiner Obrigkeit beteiligt ist, sackt als Wirtschaftsbürger wieder zum Untertan zusammen“, schrieb der ehemalige FDP-Generalsekretär.

Freiheit und Gleichheit bedingen einander. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und vom Kapitalismus sind Voraussetzung seiner Zukunft. Schrieb der Liberale Flach.
Freiheit und Gleichheit bedingen einander. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und vom Kapitalismus sind Voraussetzung seiner Zukunft. Schrieb der Liberale Flach.

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Die Forderung des Freiburger Programms, die Bürgerrechte am Arbeitsplatz zu stärken, steht in diametralem Gegensatz zur FDP-Politik der letzten Jahre. Abbau des Kündigungsschutzes, Durchlöcherung der Tarifverträge, Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, befristete Arbeitsverträge, sich ausweitender Niedriglohnsektor, Aufstocker, 1-Euro- und Minijobs sprechen eine beredte Sprache.

Mit einem prekären Arbeitsplatz wird das Leben immer weniger planbar, da alles auf Kurzfristigkeit angelegt ist, werden kaum noch langfristige Ziele verfolgt. Es mutet vor diesem Hintergrund eher komisch an, wenn alle Parteien, darunter auch die Liberalen, die Nachhaltigkeit zur Grundlage ihrer Politik machen wollen, um dem Umweltschutz gerecht zu werden. Wer die Umwelt schützen will, und das gilt auch für die Grünen, die den Krieg als Mittel der Politik wieder hoffähig gemacht haben, muss zuerst einmal wieder lernen, die Menschen zu schützen.

Für K. H. Flach heiligt der Zweck niemals die Mittel. Die Forderung nach der Angemessenheit der Mittel ist eine Grundforderung des Liberalismus. „Leben verspricht Freiheit. Wo kein Leben ist, kann sich auch keine Freiheit mehr entwickeln. Wo Unfreiheit herrscht, aber Leben entsteht, behält die Freiheit eine Chance. Insofern ist der Liberalismus kriegsfeindlich.“ K. H. Flach schrieb diese Zeilen in einer Zeit, in der Brandt, Scheel und später Genscher den Gewaltverzicht zur Grundlage der deutschen Außenpolitik gemacht hatten. Erst als die Grünen mit dem ehemaligen Straßenkämpfer Joschka Fischer als Außenminister das Militärische „enttabuisierten“, wurde Gewalt wieder zum akzeptierten Mittel deutscher Außenpolitik. Es ist ein Hoffnungsschimmer, dass Guido Westerwelle im Libyen-Konflikt an die Politik des Gewaltverzichts anknüpfte, die in früheren Jahren in den USA als Genscherismus geschmäht wurde.

Man muss, um den Liberalismus zu seinen Wurzeln zurückzuführen, nicht bei den Kriegen um Öl und Rohstoffe beginnen. Der tägliche Kampf um Einkommen und Vermögen wird durch den Gesellschaftsvertrag geregelt. Obwohl das Eigentum von den Liberalen zur Grundlage der Freiheit erklärt wurde, setzte sich über Jahrhunderte der Gedanke nicht durch, dass dann alle Eigentum brauchen, um frei sein zu können. Die Liberalen müssen zu der Lehre zurückkehren, die unter ihren Gründervätern noch verbreitet war. Eigentum entsteht durch Arbeit und muss denen gehören, die es geschaffen haben. Eigentum und Vermögen, das gemeinsam erarbeitet wird, kann nicht Einzelnen zugeteilt werden. Da weder Privateigentum noch Staatseigentum die Lösung sind, brauchen wir eine neue Eigentumsform, das Belegschaftseigentum. Es ist nicht veräußerbar und wird von Belegschaft zu Belegschaft, statt von Firmenerbe zu Firmenerbe weitergegeben. Aus abhängig Beschäftigten werden Anteilseigner, die eigenverantwortlich über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze entscheiden. So stoßen wir das Tor zu einer neuen Unternehmensverfassung auf, die die Grundlage einer wirklich freien und demokratischen Gesellschaft ist und den Feudalismus in der Wirtschaft überwindet. Karl-Hermann Flach hatte recht: Die Befreiung des Liberalismus vom Kapitalismus ist die Voraussetzung seiner Zukunft.

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