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Einer fehlt hier. In bewusster Abgrenzung zu Thilo Sarrazin waren sich Ex-Bischöfin Margot Käßmann und Bundespräsident Christian Wulff ganz einig, dass Muslime und der Islam inzwischen zu Deutschland gehörten.Foto: Arno Burgi/dpa

© dpa

Politik: Parallelgesellschaft rund ums Bellevue

Integration ist das beherrschende Thema zum Auftakt des Kirchentags in Dresden – der Bundespräsident punktet mit Ironie

Der Bundespräsident bekommt sehr wohl etwas mit von der Realität jenseits von Schloss Bellevue. Er wisse, dass es in Berlin „echte Parallelgesellschaften“ gibt, sagt Christian Wulff. Zum Beispiel in dem Viertel, in dem er in Berlin wohne. Dort interessiere sich kein Mensch für andere Berliner Stadtteile wie Marzahn, Neukölln oder Wedding. Dort interessiere nur der Tennisverein. Er hat das Reizwort „Parallelgesellschaft“, mit dem Politiker, Wissenschaftler, Journalisten gewöhnlich Zugewanderte analysieren, attackieren und stigmatisieren, einfach mal gewendet. Die Zuhörer danken es ihm mit kräftigem Applaus.

Es ist Donnerstag, Himmelfahrt, Kirchentag, es ist die erste gesellschaftspolitische Großveranstaltung. Vor 5000 Menschen diskutieren der Bundespräsident und fünf Frauen und Männer unterschiedlicher Abstammung die Frage „Wie viel Integration braucht Deutschland?“. „Viel“ antworten alle auf dem Podium. „Aber was können wir eigentlich dafür tun“, will ein Zuhörer aus dem Publikum wissen. „Was können zum Beispiel die Lehrer tun?“

Neben Christian Wulff sitzt Betül Yilmaz, Lehrerin an einer Förderschule in Gelsenkirchen. 70 Prozent ihrer Schüler stammen aus Zuwandererfamilien. Die meisten seien streng religiös, muslimisch, und würden sich der Integration komplett verweigern. Mahnungen, Gespräche mit der Polizei, sogar Verurteilungen blieben folgenlos. Der Lehrerin ist Hilflosigkeit und Wut anzumerken.

„Diese Familien sind nicht repräsentativ für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland“, sagt Aylin Selcuk – und setzt sich als Beispiel dagegen: Einser-Abitur, Studium der Zahnmedizin, gesellschaftspolitisches Engagement. Ist sie repräsentativ? Oder Sineb El Masrar, iranischer Abstammung, Chefredakteurin des Frauenmagazins „Gazelle“, oder Grigory Lagodinsky, Sohn einer jüdisch-russischen Zuwandererfamilie, der die jüdische Gemeinde in Kassel leitet? Oder Armin Nassehi, Soziologe, Katholik und bayerischer Staatsbeamter? Alle Podiumsgäste sind Akademiker. Auch sie stehen nur für einen Teil der Zuwanderergemeinschaft. Aber dass sie überhaupt hier sitzen, ist schon ein Fortschritt. Vor fünf Jahren hätte der Bundespräsident vermutlich mit fünf urdeutschen Islamwissenschaftlern diskutiert, vielleicht wäre ein türkischer Verbandsvertreter dabei gewesen. „Wir kommen bei der Integration voran“, sagt Wulff, „nicht schnell genug, aber wir kommen voran.“ Klar sei aber: „Man muss sich selbst etwas abverlangen und anderen etwas abverlangen, damit das Miteinander funktioniert.“

Zu Beginn der Veranstaltung hatte er seinen Satz wiederholt, dass der Islam zu Deutschland gehöre – so wie das Christentum zur Türkei. Er habe den Satz bewusst am 3. Oktober gesagt, „um den Muslimen, die bei uns leben, ein Zeichen zu geben“. Viele hätten sich gesorgt, ob sie und ihre Erfolge überhaupt noch wahrgenommen würden – nach der Sarrazin-Debatte.

Der SPD-Politiker ist nicht da, aber allgegenwärtig, auch am Morgen, als hier, in der Dresdner Energieverbund-Arena, Margot Käßmann ihre Bibelarbeit gehalten hat. Käßmann hatte Wulff, der im Publikum saß, ausdrücklich gedankt für seinen Islam-Satz und selbst betont: „Menschen muslimischen Glaubens gehören zu Deutschland und damit eben auch der Islam. Was sind das für hämische, menschenverachtende Pamphlete, die sich profilieren auf Kosten anderer? Wie fühlt sich ein türkischer Taxifahrer, dessen Tochter studiert, wenn ihm erklärt wird, er sei ‚Kopftuchmädchenproduzent‘?“

Das Erstaunliche an diesem Vormittag, ein dreiviertel Jahr nach Sarrazins Buchveröffentlichung: Die Religion, der Islam, wird nicht mehr für schuldig erklärt, wenn Integration misslingt. Es geht viel mehr um soziale und wirtschaftliche Probleme, um Identität und um das Grundgesetz, an das sich „natürlich alle halten müssen“, wie Wulff sagt. So dürfe es auch nicht sein, „dass Kinder unter ihren erziehungsunfähigen Eltern Schaden nehmen“. Schulschwänzen müsse Konsequenzen haben. Das Publikum hört geduldig zu, applaudiert allen auf dem Podium gleichermaßen. Und am Ende fragt der Moderator: „Könnte es vielleicht sein, dass die Kopftuchmädchen unsere Zukunft sind?“ Weil sie fleißig seien und gewissenhaft. Und immer mehr von ihnen den Mut haben, eigene Wege zu gehen.

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