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Antibavaricus. Victor Klemperer beobachtete die Vorgänge der Münchner Räterepublik aus nächster Nähe.

© dpa-p/a

Victor Klemperers Revolutionstagebuch: Als Preuße vor Ort

1919 sah Victor Klemperer die Ereignisse in Bayern noch als Komödie – im Rückblick als Tragödie. Eine Rezension

Seine Beiträge für die „Leipziger Neueste Nachrichten“ zeichnete er mit „A.B.-Mitarbeiter“. A.B. stand für „Antibavaricus“ – und tatsächlich betrachtete der Preuße Victor Klemperer das revolutionäre Geschehen der Münchner Räterepublik zwischen Februar und April 1919 mit einigem Befremden. Die Münchner Schriftsteller-Bohème, die in Gestalt von Kurt Eisner, Ernst Toller und Gustav Landauer an die Macht geraten war – sie wussten wohl selber nicht, wie ihnen das gelang –, erschien ihm allenfalls skurril. Die Kommunisten Eugen Leviné und Max Levin, die kurz darauf das Ruder übernahmen, fand er geradezu abstoßend. Das Münchner Bürgertum betrachtete er in einer Mischung aus Erstaunen und Verachtung. Lediglich mit den Freikorpstruppen, die dann in München einrückten, um „die Ordnung wiederherzustellen“, hätte er vielleicht sympathisiert, wenn sie weniger grausam und mordlüstern operiert hätten und wenn sie in ihrem Hass die Kommunisten nicht mit den Juden gleichgesetzt hätten.

Klemperer, durch und durch Liberaler mit eher konservativen Neigungen, gehörte zu den seltenen Verteidigern der Weimarer Verfassung. Auch dadurch hatte er als zum Protestantismus konvertierter Jude eine Sonderstellung, die ihn zu einem Zeitzeugen mit besonderer Sensibilität und Wachheit machte. Er wusste, was auf dem Spiel stand, und nahm die Sache trotzdem nicht ganz ernst. In München hielt er sich auf, um nach dem Ende des Krieges seine akademische Laufbahn als Romanist wieder in Gang zu setzen, aber eben auch mit journalistischem Auftrag. Noch war nicht klar, für welche Berufslaufbahn er sich entscheiden würde.

Diese robusteren Naturen waren die Kommunisten

Die Berichte, die er über die Unruhen verfasste, blieben zum größeren Teil ungedruckt, weil ja auch die Post nicht mehr funktionierte. So erscheinen sie nun mit fast hundertjähriger Verspätung zum ersten Mal – kombiniert mit Passagen aus Klemperers Erinnerungen, die er im Jahr 1942 in der Dresdner Isolation als verfolgter Jude im „Dritten Reich“ verfasste und deren Publikation in den 90er Jahren ihn berühmt gemacht hat. Klemperer erlebte die Revolution als große Farce, als bloßes Theater, dessen politische Bedeutung den Akteuren verborgen blieb. Kurt Eisner beschreibt er als kleines Männchen mit großer Bibliothek, der sich selbst als Schwärmer bezeichnete. Und doch fesselte er sein Publikum und hatte durchaus volkstribunenartige Züge.

Dass diese Räterepublik keine Basis hatte und nicht lange existieren würde, war offensichtlich. Für Klemperer war von Anfang an klar, dass die Idealisten, Dichter und Schwärmer „mit Notwendigkeit von Stunde zu Stunde robusteren Naturen weichen“ müssen. Diese robusteren Naturen waren die Kommunisten, die weniger Skrupel hatten, Gewalt anzuwenden und die entschlossen waren, die auf Luft und Illusionen gebaute Räterepublik blutig zu verteidigen. All das ereignete sich in einer Atmosphäre kleinbürgerlicher, allenfalls durch Sensationsgier getriebener Teilnahmslosigkeit. Das Ehepaar am Fenster, das gottergeben erst den Jünglingen mit ihren Flinten zuschaut und am Ende den einrückenden Reichswehr- und Freikorps-Truppen in ihrer martialischen Aufmachung und sich weder regt noch Rührung zeigt, ist das Sinnbild der Ereignisse, wie Klemperer sie wahrnimmt: „Die Passivität ist die einzige echt bayrische Zutat zu dieser Revolution, die von Nichtbayern gespielt wird und fremde Namen und fremde Institutionen kindisch nachahmt.“

In seinen Berichten kann man Geschichte im Vollzug miterleben – und zwar so, dass trotz der sinnlichen Nähe und der Unmittelbarkeit der Beschreibungen die eigentlichen Ereignisse und der Sinn des Ganzen im Dunkeln bleiben. Geschichte vollzieht sich, und die Akteure sind allenfalls Spielfiguren. Das gilt auch für Klemperer selbst als den braven Chronisten. Und wenn er bemerkte: „Die vollkommene Ahnungslosigkeit ist der Seelenzustand, der sich bei allen Bevölkerungsschichten und Parteien immer wieder beobachten lässt“, dann gilt das nicht zuletzt auch für ihn, denn der Beobachter ist von dieser Beobachtung nicht ausgenommen.

Im Zweifel alles eins

Trotz der Genauigkeit, mit der er hinzuschauen und zu schildern vermag, entzieht sich auch ihm die Bedeutung der Ereignisse. So muss er in den Passagen, die er im Jahr 1942 erinnernd hinzufügte, selbstkritisch bemerken, die Gefahr der Konterrevolution von rechts unterschätzt zu haben. Dass er den Freikorpstruppen nachträglich zu misstrauen lernte, bedeutet aber nicht, dass ihm die Revolutionäre deshalb sympathischer geworden wären. Ja, schlimmer noch, das (berechtigte) Misstrauen nach links machte ihn zwangsläufig blind in die andere Richtung.

Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem: Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Berlin 2015. 264 Seiten, 19,95 Euro
Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem: Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Berlin 2015. 264 Seiten, 19,95 Euro

© Aufbau Verlag

Der Antisemitismus und all das Ressentiment, auf denen der Nationalsozialismus dann aufbauen und erfolgreich sein konnte, waren ja schon da – als bequeme Gefühlshaltung, mit der die Juden bei Bedarf für alles verantwortlich gemacht wurden: für den verlorenen Krieg ebenso wie für den Finanzkapitalismus und den Bolschewismus in Russland, je nach Bedarf und politischer Position. In Bayern wurde „Jude“ nebenbei auch noch zum Synonym für „Preuße“. Im Zweifel alles eins, im Zweifel weg damit, und wie brutal und aggressiv die Räterepublik niedergeschlagen und ihre Repräsentanten ermordet wurden, das hatte Klemperer ja auch erlebt. Doch erst in der Rückschau überwiegt der Charakter der Tragödie über den der Komödie, die Klemperer vor Ort miterlebte und in seinen Zeitungsberichten zeichnete. Diese doppelte Ebene des Beschreibens und nachträglichen Begreifens macht den besonderen Reiz dieses Revolutionstagebuchs aus. Da spricht ein Opfer der historischen Ereignisse, doch als er sie erlebt, ist ihm das noch nicht hinreichend klar.

– Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem: Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Berlin 2015. 264 Seiten, 19,95 Euro

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