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Was tun die Institutionen, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern?

© dpa

Sexueller Missbrauch: Ein Kranz von Vorwürfen

Vor drei Jahren wurde Deutschland aufgeschreckt durch Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen. Danach meldeten sich immer mehr Betroffene, die gesellschaftliche Dimension des Themas offenbarte sich. Was hat sich seither getan?

Es ist fast auf den Tag genau drei Jahre her, dass der Jesuitenpater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, in einem Brief an ehemalige Schüler zum ersten Mal öffentlich machte, dass an der Schule Minderjährige durch Patres missbraucht und misshandelt wurden. Kurz danach wurden ähnliche Vorgänge aus der Odenwaldschule bekannt. Es war, als ob sich eine Schleuse geöffnet hätte: Hunderte Menschen meldeten sich und erzählten, wie ihnen als Jugendliche sexuelle Gewalt in kirchlichen und nicht kirchlichen Einrichtungen angetan wurde. Schnell war klar, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Die Bundesregierung benannte einen Missbrauchsbeauftragten. Es wurde eine telefonische Hotline eingerichtet, bei der sich bis Ende 2012 über 30 000 Menschen gemeldet haben. Täglich gehen weitere Anrufe ein.

Die Bundesregierung setzte auch den „Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch“ unter Federführung der drei Ministerinnen für Justiz, Familie und Wissenschaft ein. Nach eineinhalb Jahren Arbeit legte das Gremium im November 2011 einen Abschlussbericht mit Empfehlungen an die Politik vor: zur Prävention, zur Verbesserung von Opferrechten, zur Entschädigung von Betroffenen. Umgesetzt wurde davon wenig.

Was haben die Kirchen und die Odenwaldschule zur Aufarbeitung getan?

Der Jesuitenorden hat seine vier Schulen in Berlin, Bonn, Hamburg und im Schwarzwald untersuchen lassen und zählt mindestens 70 Täter und 300 Opfer. Auch das bayerische Benediktinerkloster Ettal setzte Ermittler an. Im Erzbistum München und Freising spürte eine Juristin in 13 000 Personalakten seit 1945 159 Täter und viel Vertuschung auf. Die anderen 26 Bistümer haben die Fälle zusammengetragen, die sich aufgrund von Aussagen Betroffener rekonstruieren ließen. Wie viele Jugendliche insgesamt im kirchlichen Bereich Übergriffe erdulden mussten und von wie vielen Tätern, darüber liegen nicht einmal Schätzungen vor. In der wegen ihrer Reformpädagogik berühmten Odenwaldschule stießen die Ermittler auf 132 Opfer. Die Dunkelziffer dürfte überall wesentlich höher sein als die bisher aufgedeckten Fälle.

Was haben die Studien ergeben?

Viele Übergriffe fanden in den 1970er und 1980er Jahren statt, in einigen kirchlichen Einrichtungen gab es auch noch vor wenigen Jahren neue Vorkommnisse. In geschlossenen Milieus wie in Internaten und Familien und dort, wo geschlossene Weltbilder vorherrschen, sind Missbrauch und Vertuschung leichter möglich als anderswo. Doch in jedem gesellschaftlichen Bereich hat der Missbrauch einen ganz eigenen „Geschmack“, wie Pater Mertes es nannte. Missbrauch passiert auch nicht zufällig, sondern viele Täter gehen systematisch vor. 2012 untersuchte der Forensiker Norbert Leygraf, warum katholische Priester zu Tätern werden. Die Bischofskonferenz hatte ihm dafür 78 anonymisierte psychologische Gutachten über die Geistlichen zur Verfügung gestellt. Eine spezielle sexuelle Störung oder Pädophilie lag demnach nur in wenigen Fällen vor. Meistens waren berufliche Krisen, Einsamkeit oder Probleme mit Nähe und Distanz die Ursache.

Institutionenübergreifende Studien gibt es bisher nicht. Wie groß die Dimension von sexuellem Kindesmissbrauch in Familien und Einrichtungen ist, darüber gibt es deshalb nur Schätzungen, die sehr weit auseinandergehen. Laut einer Studie des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer von 2011 sind 8,6 Prozent der Mädchen und 2,8 Prozent der Jungen unter 16 Jahren betroffen. Die Opferinitiative Zartbitter geht von drei- bis viermal so hohen Zahlen aus.

Was bisher versäumt wurde

Welche Konsequenzen wünschen sich die Betroffeneninitiativen?

Die Initiative „Eckiger Tisch“ forderte den Bundestag auf, eine Enquetekommission einzusetzen, um die Fälle institutionenübergreifend aufzuarbeiten. Auch Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, will der Politik bis Mai Vorschläge machen, wie Bundestag und Bundesregierung die Aufarbeitung übernehmen könnten. Der Vorschlag des „Eckigen Tisches“ werde dabei eine Rolle spielen, sagt er. Die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), kann sich ebenfalls für diese Idee erwärmen und sagt: „Die Opfer haben ein Recht darauf, dass endlich alle Taten tabulos aufgeklärt werden. Die Bundesregierung muss jetzt schnell mit dem Runden Tisch beraten, wie der Aufklärungsprozess fortgesetzt werden kann.“ Auch Christel Humme (SPD), Vizevorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, kann sich eine unabhängige Untersuchungskommission des Bundestages „gut vorstellen“. Ebenso unterstützt Heinz Hilgers, der Präsident des Kinderschutzbundes, die Forderung.

Die Betroffenen und ihre Organisationen sind im Fachbeirat des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung vertreten. Doch in der Öffentlichkeit kommen sie drei Jahre nach Beginn des Skandals kaum noch zu Wort. Viele haben sich deshalb enttäuscht zurückgezogen. Nur 1300 Menschen haben die 5000 Euro beantragt, die die katholische Kirche und der Jesuitenorden den Missbrauchsopfern als eine Art Entschädigung zahlt.

Was wurde versäumt?

2011 wurde von der Bundesregierung und den Ländern ein Hilfefonds in Aussicht gestellt, den beide Seiten mit je 50 Millionen Euro bestücken wollten. Davon sollten vor allem Betroffene, denen im familiären Bereich Schlimmes angetan wurde, finanzielle Erleichterungen erhalten. Doch bislang gibt es den Fonds nicht, da die Länder ihre Zusage nicht halten. Ein von der Justizministerin auf den Weg gebrachtes Gesetz zur Verlängerung der Verjährungsfristen bei Missbrauch und Verbesserung von Opferrechten liegt seit 18 Monaten im Rechtsausschuss.

Was tun Institutionen, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern?

Eine repräsentative Umfrage des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung hat 2012 ergeben, dass 60 Prozent der Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, mit Fortbildungsmaßnahmen für ihre Fachkräfte begonnen haben. Im Erzbistum Köln etwa würden dadurch 200 000 Fachkräfte erreicht. Auch die Bereitschaft, Schutzkonzepte einzuführen, sei auf der Ebene der Dachorganisationen groß. „Doch bis das auch bei allen Ortsvereinen angekommen ist, wird viel Zeit vergehen“, sagt Rörig.

„Es hat sich enorm viel getan“, sagt Christine Bergmann. Die SPD-Politikerin war von 2010 bis 2011 Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. „Das Bewusstsein für das Thema ist in der Bevölkerung gewachsen“, sagt Kinderschutzbund-Präsident Hilgers. Doch wenn die Menschen dann in einer Beratungsstelle Hilfe suchen, bekommen sie keinen Termin, weil die Stelle überlastet ist.“ Es brauche viel mehr Anlaufstellen.

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