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Interview: Thilo Sarrazin: "Ich nehme nichts zurück"

Ex-Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin über sein umstrittenes Buch, Berliner Schulen und Vorzüge des chinesischen Bildungssystems.

Herr Sarrazin, seit dem Erscheinen Ihres Buches „Deutschland schafft sich ab“ schwankt Ihr Bild in der Öffentlichkeit zwischen Volksheld und Buhmann. Wie lebt es sich als Spalter der Nation?

Ich denke nicht zuerst an mein Bild in der Öffentlichkeit, und ich empfinde mich auch nicht als Spalter der Nation.

Wie vergiftet muss die Atmosphäre in einer Gesellschaft sein, wenn ein so polarisierendes Buch zum Bestseller wird?

Ich finde das Buch nicht polarisierend. Ich habe ein solides, theorie- und faktengesättigtes Buch mit einem Fußnotenapparat von 50 Seiten geschrieben. Darin benenne ich Probleme und Defizite, die im öffentlichen Diskurs bei uns gerne verdrängt wurden. Eine Schaffnerin sagte mir kürzlich im Zug: „Was müssen Sie aushalten, nur weil Sie sagen, was wir alle denken.“

Man wirft Ihnen vor, den Konsens der Demokratie verlassen zu haben.

Wer ist „man“? Meinen Sie jenen stellvertretenden Chefredakteur des öffentlichen Fernsehens , der das Ende August in einem Kommentar sagte – also zu einem Zeitpunkt, als er mein Buch überhaupt noch nicht gelesen haben konnte? Richtig ist, dass ich einige bequeme Denkfiguren von Teilen der Politik und Medien hinterfragt habe. Viele Politiker und Journalisten blenden einen ganzen Katalog an Problemen einfach aus, weil es ihnen zu riskant oder politisch zu inkorrekt erscheint, darüber klar zu reden. Dass führt aber nur zu Missmut und Problemstau.

Ihre Partei, die SPD, hat sich entschieden, Sie nach fast 40 Jahren auszuschließen. Nur weil Sie, wie Sie sagen, ein „solides, faktenreiches“ Buch geschrieben haben?

Mein Landesvorsitzender Michael Müller warf mir in einem Schreiben vom 25. August „menschenverachtende Thesen“ vor und forderte mich auf, die Partei zu verlassen. Da war das Buch noch gar nicht auf dem Markt. Ich habe ihm ein Gespräch angeboten, sobald er es gelesen habe. Seitdem habe ich von ihm nichts mehr gehört. Am Tag der Veröffentlichung des Buches tagte der SPD-Bundesvorstand und beschloss, meine Entfernung aus der Partei zu betreiben. Der Inhalt des laufenden Verfahrens ist vertraulich. Aber zum Ergebnis kann ich Ihnen Folgendes sagen: Es wird nicht damit enden, dass ich die Partei verlasse, und auch nicht damit, dass ich nur eine einzige Aussage meines Buches relativiere oder zurücknehme.

Ihre Kritik an der Gesellschaft, in der Sie ein erfolgreiches berufliches und politisches Leben verbracht haben, ist fundamental. Machen Sie sich keine Vorwürfe, versagt zu haben?

Nur wenn man Diktator ist, ist man nicht eingebunden in Amt und Hierarchien. Wo ich entscheiden konnte, habe ich stets versucht, weiter über meine Zuständigkeiten hinauszuwirken. Ohne Arroganz darf ich sagen: Was an den Haushalten der Länder Rheinland-Pfalz und Berlin heute positiv ist, das stammt aus der Zeit, als ich dort Finanzstaatssekretär oder Finanzsenator war. In Berlin habe ich nach Kräften versucht, auch die Bildungs- und Sozialpolitik mitzugestalten.

Wir würden gerne einen Blick nach vorne werfen. Sie beschreiben in Ihrem Buch soziale Missstände. Sie stecken nicht mehr im engen Korsett der Politik. Was würden Sie ändern? Nehmen wir die Familienpolitik. Sie sagen, Menschen, die besser verdienen, sollen 50 000 Euro vom Staat erhalten, wenn sie ein Kind bekommen.

Das sage ich überhaupt nicht. Ich sage, dass die schiefe Verteilung der relativen Fruchtbarkeit auf die Einkommens- und Bildungsschichten auch mit der Konstruktion des deutschen Familienlastenausgleichs zusammenhängt. Menschen ohne Einkommen oder mit niedrigem Einkommen erhalten in Deutschland für ihre Kinder mehr Geld vom Staat, als sie für ihre Kinder überhaupt ausgeben. Das schafft falsche Anreize, es beseitigt aber nicht die Hemmnisse für Frauen mit Hochschulabschluss, die in Deutschland besonders wenig Kinder haben. Das liegt am späten Zeitpunkt der Erstgeburt und an den hohen Opportunitätskosten, die das Kinderkriegen für Mütter mit guter Ausbildung hat. Eine vorschüssig ausgezahlte Geburtenprämie von 50 000 Euro für jedes Kind, das eine Frau mit Hochschulabschluss vor dem dreißigsten Lebensjahr bekommt, würde nicht mehr kosten als das heutige Kindergeld. Das kostet nämlich 55 000 Euro, bis das Kind seine Ausbildung beendet hat, und entfaltet überhaupt keine sinnvolle Steuerungswirkung.

Also, Thilo Sarrazin sagt: Kindergeld abschaffen und das Geld effizient einsetzen.

Ich sage, dass mit einer Prämie statt Kindergeld möglicherweise ein Anreiz für junge Akademikerinnen geschaffen werden könnte, mehr Kinder zu bekommen. Und die Prämie wäre gar nicht teurer als das heutige Kindergeld.

Außerdem müsste der Staat bei den Kindern aus der Unterschicht schon sehr früh handeln.

Kinder, die aus bildungsfernen Schichten kommen, brauchen eine frühe und intensive Betreuung in staatlichen Einrichtungen, um Defizite in der familiären Sozialisation auszugleichen. Bildungsfern ist für mich übrigens nicht der aufstrebende Facharbeiter oder der wissbegierige Einwanderer. Es sind jene Schichten, die sich für berufliches Fortkommen und Bildung nicht weiter interessieren.

Die Schichten werden größer.

Ja, die werden größer. Am Ende werden wir zu einem vernünftigen Ganztagsangebot für alle kommen müssen. Das bedeutet, dass der Erziehungsauftrag stärker als früher beim Staat konzentriert wird. Ich stehe dieser Entwicklung innerlich gespalten gegenüber, aber angesichts des gesellschaftlichen Trends halte ich sie für unvermeidlich und auch geboten.

Gesellschaftliche Verdummung oder Totalitarismus?

Sie haben das ein wenig provokativ ausgedrückt. Aber vor die Wahl gestellt, dass ein Kind zu Hause vor dem Fernseher verblödet, finde ich es besser, dass die Kinder eine verpflichtende Ganztagsschule haben, mit einem geregelten Freizeitangebot und einer Hausaufgabenbetreuung.

Sie empfehlen das chinesische Modell für Deutschland?

Ich empfehle, sich seine positiven Wirkungen anzusehen.

In Berlin wird gerade eine umfassende Schulreform umgesetzt. Hauptschulen wurden abgeschafft, Leistung als Zugangsbedingung für Schulen steht im Vordergrund. Ist das der richtige Weg?

Die Berliner Bildungsreformen sind alle nicht falsch. Nachdem die Hauptschule zur Restschule geworden war, musste man sie abschaffen. Die Abschaffung verbessert aber noch gar nichts. Die Reformen, die an den Schulen inhaltlich wirklich etwas verändern oder verbessern, die habe ich in Berlin noch nicht gesehen.

Was würden Sie konkret verändert?

Als Erstes müssten alle Führungskräfte, vom Referatsleiter bis zum Schulrat, einem Eignungstest unterzogen werden. So, wie ich das in jeder Position mit meinen Führungskräften gemacht habe. Da bleiben zum Schluss nicht viele übrig. Aber die Qualität des Managements steigt. Dann muss es schulformunabhängige Leistungstests geben. Nach dem zweiten und nach dem vierten Schuljahr. So schafft man eine Vergleichbarkeit der Schulleistungen und damit letztlich auch der Noten. Diese Ergebnisse würde ich veröffentlichen. Dann kann jeder sehen, welche Schule wie viel leistet. Es muss einen Wettbewerb unter den Schulen geben. Und natürlich würde ich die Unart abschaffen, dass Lehrer selbst diese Leistungstests korrigieren.

Sie kritisieren in Ihrem Buch das Jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL).

Das ist ein schönes konkretes Beispiel. An diesem Beispiel kann man sehen, wie ein unbedachtes Vor-sich-hin-Reformieren viel Murks produziert.

JÜL wurde 2006 beschlossen, als sie im Senat waren. Warum haben Sie diese Reform nicht verhindert?

Habe ich doch versucht. Meine Einmischungen in die Bildungspolitik waren legendär.

Aber sie haben nichts bewirkt.

Ich war nicht zuständig.

Ist der Islam ein Hinderungsgrund für eine moderne demokratische Gesellschaft?

Es gibt immer Differenzierungen, und man kann nicht alles über einen Kamm scheren, aber die Gesamtevidenz ist absolut bestürzend und leider auch überzeugend. Für mich ist das beste Beispiel England, wo die Schüler aus Pakistan und Bangladesch regelmäßig schlechter abschneiden als die britischen Schüler, die indischen Schüler aber besser als die britischen. Ethnische Unterschiede zwischen Pakistanis und Indern kann man nicht als Erklärung heranziehen, die Leistungsunterschiede sind nur erklärbar durch den kulturellen Hintergrund der Religion. Das ist übrigens keine Erfindung von mir. Lesen Sie z. B. von V. S. Naipaul „Among the Believers. An Islamic Journey“ aus dem Jahre 1981.

Müssen dann Muslime am besten ihrer Religion abschwören, wenn sie Zugang zu unserer Gesellschaft finden wollen? Ist der Gedanke eines aufgeklärten, demokratischen Islam eine Illusion?

Ich bin kein Prognostiker. Zur hohen Zeit der Inquisition um das Jahr 1530 hätte sicher niemand an das vatikanische Konzil von Johannes XXIII. gedacht. Aber die Entwicklung zu einem liberalen Katholizismus dauerte eben 450 Jahre und war mit blutigen Religionskriegen verbunden. Ich habe leider den Eindruck, dass unter den Muslimen, die bei uns leben, eher fundamentale Ausprägungen des Islam an Boden gewinnen. Und wir haben auch keine 400 Jahre Zeit.

Wer, welche Partei, ist nach Ihrer Überzeugung am besten geeignet, die Probleme, die Sie beschreiben, zu lösen? Wen würden Sie zum Kanzler machen?

Solange führende Politiker mit Händen vor den Augen zwischen den Problemen wandeln, ist das völlig egal. Blinde bleiben Blinde.

Das Interview führten Hermann Rudolph, Antje Sirleschtov und Moritz Schuller. Das Foto machte Thilo Rückeis.

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