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Der Istanbuler Gymnasiast Sidar Kardogan protestiert mit einem Infostand gegen das neue Schulsystem.

© Thomas Seibert

Türkei: Proteste gegen "Islamisierung" im Schulwesen

Das neue Schuljahr in der Türkei beginnt mit Protesten. Erdogans Regierung hat ein neues Schulsystem in Kraft gesetzt, mit dem religiöse Schulen und Korankurse gestärkt werden. Die Opposition wirft der Regierung islamistische Gehirnwäsche von Millionen von Kindern vor.

Die langen Sommerferien sind vorbei, in der Türkei hat für rund 17 Millionen Schüler das neue Schuljahr begonnen. Doch das Ende der Ferien ist nicht der Grund dafür, dass Sidar Kardogan gleich nach Schulstart auf der Straße ist, um zu protestieren. Zusammen mit einigen Freunden verteilt der 16-jährige Gymnasiast auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im Herzen von Istanbul selbstgedruckte Handzettel, an einem Infostand klebt ein Poster mit dem Bild von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Parolen gegen die Bildungspolitik von Erdogans Regierungspartei AKP. „Schlecht für die Türkei“ sei das, was die AKP da treibe, sagt der Schüler.

Kardogan steht mit seiner Kritik nicht allein. Der Schulstart in dieser Woche wurde begleitet von wütenden Protesten der Opposition in Ankara: Erdogans Regierung hat ein neues Schulsystem in Kraft gesetzt, das nach Meinung der AKP-Gegner eine islamistische Gehirnwäsche von Millionen von Kindern einleitet.

„4+4+4“ – so lautet die Kurzformel der Schulreform: Zwölf Jahre Schulpflicht - vier Jahre Grundschule, gefolgt von vier Jahren Mittelschule und vier Jahren Oberschule vor der Hochschulreife - werden der aufstrebenden Regional- und Wirtschaftsmacht Türkei nach Darstellung der Regierung gut ausgebildete Arbeiter, Ingenieure und Akademiker verschaffen. Dass das bisherige Schulsystem mit acht Jahren Schulpflicht unzureichend war, ist weitgehend Konsens im Land. Das alte System war 1997 von den Militärs entworfen worden, vor allem mit der Absicht, den Einfluss religiöser Schulen zurückzudrängen.

Jetzt sind die Islam-Schulen wieder da, und genau das macht den Kritikern die meisten Sorgen. Die so genannten Imam-Hatip-Schulen waren ursprünglich für die Ausbildung islamischer Geistlicher gedacht, sind aber seit langem in konservativen Kreisen als allgemein bildende Schulen sehr beliebt; auch Erdogan selbst ist Absolvent einer solchen Schule, ohne jemals Prediger gewesen zu sein. Im Schuljahr 2010/2011 besuchten mehr Mädchen als Jungen die religiösen Schulen – obwohl es in der Türkei so gut wie keine weiblichen islamischen Geistlichen gibt.

Die Militärs hatten die Imam-Hatip-Schulen an den Rand gedrängt – Erdogan hat sie jetzt rehabilitiert. Ein Oppositionspolitiker sprach diese Woche von einem Angriff auf die säkulären Werte der Repubik.

Von den Zahlen her scheint dieser Vorwurf absurd: Nur 236.000 der fast fünf Millionen Mittel- und Oberschüler in der Türkei besuchten im vergangenen Jahr eine Imam-Hatip-Schule. Doch der Anteil der Imam-Schulen steige seit Jahren und werde durch Erdogans-Reform jetzt noch stärker nach oben schnellen, sagen die Kritiker. Erstmals seit 1997 dürfen Imam-Hatip-Schulen wieder im Mittelschul-Bereich tätig sein, stehen also ab sofort für Kinder ab elf Jahren bis zum Abitur bereit. Die von den Militärs vor 15 Jahren verfügten Zugangsbeschränkungen für Imam-Hatip-Schüler an den Universitäten waren bereits vor der jetzigen Reform aufgehoben worden. Selbst der Weg für Imam-Hatip-Absolventen an die Militärakademie ist frei.

Wegen der starken Nachfrage wurden bereits einige normale Schulen in Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Gleichzeitig bieten staatliche Mittelschulen erstmals Koran-Kurse und Unterrichtseinheiten zum Leben des Propheten Mohammed als Wahlfächer an. Die Reform gebe der Regierung die Möglichkeit, „alle Schulen zu Imam-Hatip-Schulen zu machen“, freute sich ein Abgeordneter der Erdogan-Partei öffentlich. Der Ministerpräsident selbst verkündete, die Predigerschulen kehrten „zu ihren goldenen Zeiten zurück“.

Was Erdogan als überfällige Korrektur einer ungerechten Ausgrenzung religiöser Kreise sieht, lässt bei seinen Kritikern die Furcht vor einer Islamisierung wachsen. Oppositionspolitiker berichten, fromme Eltern meldeten ihre Kinder massenweise in den Moscheen für die Islam-Schulen an. Der Gymnasiast Kardogan sagt, Erdogans Regierung wolle, dass „die ganze Jugend so aussieht wie die AKP“ und „alle Kinder nach ihrer eigenen Ideologie erziehen“.

Andere Aspekte der Bildungsreform gehen im Streit um die angebliche Islamisierung unter. So können Kinder der Mittelstufe in staatlichen türkischen Schulen erstmals Kurse in einem Wahlfach Kurdisch belegen. Diese Geste an die rund zwölf Millionen Kurden im Land geht kurdischen Politikern allerdings nicht weit genug: Sie verlangen, kurdische Kinder müssten Kurdisch gleich in der Grundschule als Muttersprache lernen – anstelle von Türkisch.

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