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Straßenszene vor einer salafistischen Moschee in Tunis. Die meisten radikalen Moscheen hat die Regierung inzwischen wieder unter Kontrolle.

© Katharina Eglau

Tunesien: Kampf gegen die Dschihadisten

Aus keinem arabischen Land kommen mehr ausländische IS-Kämpfer als aus Tunesien. Das Land ringt hart um gesellschaftliche Konzepte gegen die Radikalisierung seiner Jugend. Von unserem Korrespondenten aus Tunis 

Einst waren die Berge von Chaambi eine Idylle. Hier im Westen Tunesiens haben schon die Phönizier und Römer Holz für ihren Schiffbau geschlagen. 1980 wurde die Bergregion nahe der Grenze zu Algerien zum Nationalpark erklärt. Bis am 29. April 2013 zum ersten Mal eine schwere Explosion durch die einsamen Täler hallte. Bassam Bel Hadj Yahya gehörte damals zur Anti-Terror-Einheit der Nationalgarde. Um sechs Uhr früh war seine Truppe vor Ort angekommen, alarmiert von Bewohnern, die bewaffnete Gestalten in der Region beobachtet hatten. Eine Tretmine riss dem Offizier das linke Bein ab, das rechte wurde zertrümmert – Auftakt zu einem rasch eskalierenden Kleinkrieg zwischen Terroristen und Sicherheitskräften in der schluchtigen Region, die bisher mehr als 60 Tote und 110 Verletzte gefordert hat. Allein im letzten Juli während des Ramadans starben 15 Soldaten, als Gotteskrieger kurz vor dem Fastenbrechen ihr Zeltlager überfielen, das blutigste Massaker an Sicherheitskräften seit der Unabhängigkeit des Landes 1956.

Den Dschihad rechtfertigen viele

Bassam Bel Hadj Yahya trägt eine Prothese und kann nach monatelanger Reha in Frankreich wieder laufen. Der 37-Jährige wohnt in La Marsa, einem wohlhabenden Seeort vor den Toren von Tunis. Unter seinen Nachbarn weiß er mindestens drei Familien, deren Söhne als Gotteskrieger in Syrien gestorben sind. Eine junge Studentin von hier wurde kurz vor den Parlamentswahlen bei einem Anti-Terror-Einsatz in Tunis zusammen mit vier Komplizinnen erschossen. „Es gibt viele, die den Dschihad rechtfertigen – im Supermarkt, beim Arzt oder beim Friseur“, erzählt der Offizier aus seinem Alltag. „Manchmal versuche ich, mit ihnen zu diskutieren, meist aber gehe ich einfach weg.“

Behinderten Bruder aus Syrien zurückgeholt

Die meisten Gotteskrieger des „Islamischen Staates“ stammen aus Tunesien – gefolgt von Saudi-Arabien und Marokko. Im Verhältnis zu seinen elf Millionen Einwohnern liegt das kleine, säkulare Land am Mittelmeer im gesamten Nahen Osten einsam an der Spitze. Nach Schätzung des Innenministeriums kämpfen 3000 junge Männer, teilweise auch junge Frauen, in Syrien und Irak. 9000 wurden bisher an der Ausreise gehindert, etwa 300 sind zurückgekehrt, mindestens 170 gestorben. Auffallend viele stammen aus Mittelklasse-Familien, waren Studenten, angestellt im öffentlichen Dienst oder hatten gut bezahlte Berufe im Privatsektor. „Die Armen wollen nach Europa, die besser Gestellten gehen nach Syrien – das ist besonders beunruhigend“, erläutert Mohamed Iqbal Ben Rejeb, Gründer von RATTA, einer Organisation, die tunesischen Familien hilft, ihre Söhne aus Syrien oder Irak zurückzuholen. „Sie träumen vom Paradies, wollen als Märtyrer sterben und propagieren eine Kultur des Todes.“ Auslöser der Initiative war sein behinderter 23-jähriger Bruder Hamza, der sich eines Tages per SMS als Mitglied der Nusra Front aus Syrien meldete. „Wir waren total schockiert“, erinnert sich Mohamed. Unter Tränen beschwor er im Fernsehen den Abtrünnigen im Rollstuhl, zurückzukommen, was dieser nach einigem Hin und Her dann auch tat.

Zahllose Beispiele

Die Zahl der Familien in Tunesien, die solche Schicksale teilen, geht inzwischen in die abertausende. Der Sohn eines Kulturdirektors war Flugbegleiter, bevor er untertauchte und in Irak starb. Der Sohn eines Generals kam in Syrien um, ein anderer Jihad-Rekrut ließ hochschwangere Frau und erstgeborenes Kind in Tunesien zurück und wurde getötet. „Wir haben uns erst nichts dabei gedacht, als Sofian begann, regelmäßig in der Moschee zu beten, sich einen Bart wachsen zu lassen und erklärte, er wolle sein Leben Allah widmen“, berichteten die Eltern eines anderen Kämpfers. Eines Tages meldete er sich bei seiner Mutter per Skype aus Syrien. Monate später fand die Familie auf Facebook seinen Namen auf einer Website für so genannte „Märtyrer“. Der U21-Fußball-Nationalspieler Nidhal Selmi aus Sousse ließ sich kurz vor seinem Tod am 16. Oktober in Syrien in Tarnuniform und Kalaschnikow fotografieren. „Sein Wandel vollzog sich innerhalb weniger Monate“, berichtete Sami Mssoli, der frühere Jugendtrainer des Sportstars, der eigentlich als lebensfroh galt, gerne flirtete oder in Cafés mit Freunden Karten spielte. „Ich weiß nicht, was in ihm abgelaufen ist, aber das Ganze ist ein sehr ernstes Phänomen.“

Staat ist zu spät eingeschritten

Wissenschaftler wie Alaya Allani von der Manouba-Universität in Tunis nennen vier Faktoren, die diese dramatische Entwicklung mit heraufbeschworen haben. Die so genannte Troika, das Regierungsbündnis aus Ennahda-Muslimbrüdern und zwei säkularen Parteien während des dreijährigen Interim-Parlaments, sei viel zu spät und viel zu halbherzig gegen diese Radikalisierung eingeschritten. Rund ein Drittel der 5100 Moscheen im Land seien im Gefolge des Arabischen Frühlings unter den Einfluss gewaltbereiter Salafisten geraten. Schon bald  hätten die tunesischen Radikalen mit Gleichgesinnten in Libyen kooperiert. Zudem seien nach der Revolution 8000 Vereine gegründet worden, von denen zwei Drittel im Trüben fischten und nur als Deckmantel dienten, um Kämpfer zu rekrutieren. „Etwa 5000 Euro fließt für das Anwerben einer Person, das Geld kommt meist aus Qatar, aber auch aus Kuwait und Saudi-Arabien“, weiß Alaya Allani und spricht von einer regelrechten Jihadi-Industrie.

Mohamed Iqbal Ben Rejeb hilft mit seiner Organisation Ratta tunesischen Familien, ihre Söhne zurückzuholen.
Mohamed Iqbal Ben Rejeb hilft mit seiner Organisation Ratta tunesischen Familien, ihre Söhne zurückzuholen.

© Katharina Eglau

Radikale Moscheen weitestgehend wieder unter Kontrolle

In seinen Augen jedoch gewinnt der tunesische Staat langsam wieder die Oberhand. Zahlreiche Rekrutierungsbüros wurden geschlossen, die staatliche Kontrolle über die meisten radikalen Moscheen zurückgewonnen. Seit dem ersten Tretminen-Attentat in den Chaambi-Bergen Ende April 2013 wurden 1500 Extremisten festgenommen, deren Terror-Haltung Allani in einer Studie analysiert hat. Zehn Prozent sind Überzeugungstäter, zehn Prozent durch Familienmitglieder ins Jihadisten-Milieu Abgerutschte, 80 Prozent dagegen klassifiziert er als Mitläufer. Der neuen demokratischen Regierung, wenn sie gebildet ist, will er ein breit angelegtes Rehabilitationsprogramm sowie eine Nationale Konferenz gegen Terrorismus vorschlagen, um das Thema auf die gesellschaftliche Agenda zu heben und die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. „Die große Mehrheit der jungen Leute sind Verführte“, ist er sich sicher. „Die können wir zurückgewinnen.“

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