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Goldsprung. Aschenbach bei den Olympischen Spielen 1976 in Innsbruck.

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Abrechnung mit dem DDR-Sport: Olympiasieger Aschenbach: Vom Held zum Verräter

Hans-Georg Aschenbach gewann für die DDR olympisches Gold und floh in den Westen. Jetzt hat er sein Leben aufgeschrieben und reißt damit Gräben auf.

Als Hans-Georg Aschenbach zurückkehrt, zum ersten Mal seit Jahren in aller Öffentlichkeit, teilt sich seine Heimat vor ihm. „Rechts saßen die Guten, links die Bösen“, erzählt er. Mehrere hundert Menschen sind gekommen, um ihm zuzuhören in Suhl, vor allem aber um etwas loszuwerden. Auf Aschenbach prasseln Vorwürfe ein: „Ohne das System wärst du nie Olympiasieger geworden.“ Oder: „Du hattest doch alles, warum bist du dann abgehauen?“ Und über allem schwebt der Vorwurf, ein Verräter zu sein.

Hans-Georg Aschenbach hat im Skispringen alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, die Vierschanzentournee, den Weltmeistertitel und 1976 in Innsbruck auch eine olympische Goldmedaille. Die Leser der Tageszeitung „Junge Welt“ wählen ihn zum Sportler des Jahres der DDR. Aber 1988 nutzt er eine Reise in die Bundesrepublik, um sich abzusetzen. Er lässt seine Familie, seine Sportkollegen, sein altes Leben zurück. Viele Jahre lagert er seine Vergangenheit wie in einem Keller. Dann beschließt er, an dieser Diskussionsveranstaltung in Suhl teilzunehmen. Es ist Februar 2011 und der Beginn einer Aufarbeitung. Seiner eigenen und der eines Sportsystems.

Vor den Zuhörern in Suhl sitzt ein Polarisierer. Aschenbach, inzwischen 60, aber mit sportlicher Figur und jungenhaftem Gesichtsausdruck, regt auf. Was die Leute am meisten aufbringt gegen ihn? Vielleicht die Flucht. Oder das, was danach kommt. Dass Aschenbach, im Westen angekommen, der „Bild“-Zeitung erzählt, wie das Dopingsystem in der DDR funktioniert und dabei prominente Namen nennt, Katarina Witt, Jens Weißflog. Also eben auch Namen aus Sportarten, in denen Doping keine besonders große Rolle spielt. Vielleicht ist es auch der Ton, in dem er über den DDR-Sport spricht, wie mit messerscharfer Klinge rasiert er einmal drüber und lässt nichts Gutes stehen.

Das Verhör in Suhl nimmt seinen Lauf, und Aschenbach merkt, dass er dennoch mit jeder Minute ruhiger wird. „Mensch, das hast du jetzt durchgestanden. Du hast den Leuten in die Augen geschaut und dich nicht schlecht geschlagen“, sagt er sich hinterher. Nach der Diskussion kommen einige auf ihn zu, einige von der rechten Seite des Saals, von den Freundlichen. „Sie haben mir gesagt: Jetzt bis du so weit gegangen, jetzt beantrag’ doch mal deine Akte.“ 2000 Seiten bekommt er zu lesen, betippt von Mitarbeitern der Staatssicherheit. „2000 Seiten negativ – wumm“, sagt Aschenbach, „da war vielleicht mal eine Seite zwischendurch, auf der jemand gesagt hat, so schlecht war er gar nicht. Ich wurde mit mir selbst in einer erschütternden Hässlichkeit konfrontiert. Sich dann wiederzufinden war ganz schwer.“ Die Lektüre sei das schlimmste Erlebnis seines Lebens gewesen.

Den 2000 Seiten hat Aschenbach jetzt 191 Seiten entgegengesetzt. „Euer Held. Euer Verräter. Mein Leben für den Leistungssport“, heißt sein Buch, das er an diesem Wochenende in Leipzig auf der Buchmesse vorstellt. Es ist die Geschichte eines eigenwilligen Sportlers, dessen Ansichten reichlich Stoff zum Diskutieren und Streiten bieten. Eine Innensicht aus dem DDR-Sport, aber man kann das Buch auch systemübergreifend lesen als Geschichte, wie der Hochleistungssport Menschen vereinnahmt. „Nehmt meinen Spiegel für euch oder lasst es“, das sei sein Anliegen. „Ich habe mein Leben lang auch nicht in den Spiegel geschaut.“ Erst die Veranstaltung in Suhl und die Aufforderung seiner zweiten Frau, sich endlich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen, hätten ihn dazu gebracht.

"Ich ließ mich auf den Handel mit dem Teufel ein."

Sein Ehrgeiz treibt Aschenbach zum Sport, er wird mit zwölf Jahren ins Sportinternat aufgenommen. „Kinderkaserne“ nennt er das Internat heute. „Ausgebildet wurde ich nach militärischen Maßstäben – meine Waffen waren meine Skier. Die Sportler der DDR waren keine Diplomaten. Wir waren Krieger, eingesetzt an der politischen Front, kämpfend für die Unsache des Sozialismus.“ Die Logik des Leistungssports sei dieselbe wie die im Kapitalismus, ergänzt um eine Doppelmoral: „Der Sieg gehört dem Volk, der Partei und dient der Allgemeinheit. Der Misserfolg gehört dir allein, und du hast dafür die volle Verantwortung zu tragen.“

Eine Trennung zwischen Spiel und wirklichem Leben gibt es für ihn im Sportinternat nicht. Das System erziehe die Schüler zu Konkurrenten, der Ablauf folge immer demselben Drill: „Immer zur gleichen Zeit aufstehen. Immer zur gleichen Zeit ins Bett gehen. Immer gute schulische Leistungen erbringen. Immer tolle sportliche Erfolge vorweisen. Immer die gleiche, formelartige Stellungnahme beim Fahnenappell.“ Das Verständnis werde nicht gefördert, dass Niederlagen auch etwas für sich haben können. „Wie sollte ich lernen, Schwächen als etwas Normales zu akzeptieren, wenn es keinen Platz zum Scheitern gab?“

Um damit zurechtzukommen, teilt er einfach seine Persönlichkeit. „Damals begann ich, mir zwei Welten aufzubauen. Zwei parallel benutzbare Leben: Das politisch-gesellschaftliche Leben mit dem Beruf als Skispringer im Armeesportverein, das war die eine Welt. Die andere bestand aus meinen Gefühlen, Gedanken und Fragen, die ich nicht haben durfte.“ Zwischen den Welten hin- und herzuspringen habe er gelernt. „Die Lüge war Teil des Erziehungsprozesses im Sozialismus.“

Mit 18 Jahren wird Aschenbach in den Nationalkader der DDR aufgenommen und zu einem Gespräch geladen mit dem Generalsekretär des ostdeutschen Skiverbands, einem Trainer und einem Arzt. Die drei Herren eröffnen ihm, was die Zugehörigkeit zum Nationalkader noch umfasst: die blaue Pille. Doping. Alles sei wissenschaftlich erforscht und bedenkenlos, erklären sie ihm. Als Aschenbach nachfragt, was denn passiere, wenn er die Pillen nicht schlucke, sagen sie ihm: „Bei Nein geht es heim.“ Aber Aschenbach wollte doch Erfolg haben. „Also ließ ich mich auf den Handel mit dem Teufel ein.“

Fünf Prozent – mehr habe Doping nicht bewirkt, manchmal habe es sogar die Form eher noch zerstört, glaubt er heute. Jeder habe die gleiche Ration bekommen, egal wie groß oder klein er war, wie hoch oder niedrig der Hormonspiegel. „Das Einzige, was wirklich zuverlässig bei allen fruchtete, waren die Nebenwirkungen oder Nachteile, weil das Gewicht zunahm, jahrelang trainierte Bewegungsabläufe durch schnellen Muskelwuchs verstellt wurden.“

Aschenbach wird zum erfolgreichsten Skispringer der Welt, er gewinnt die wichtigsten Titel, er wird gefeiert, geehrt, belohnt. Und er bekommt eine Perspektive für die Zeit nach dem Sport. Er studiert Medizin, promoviert, und wird schließlich als Arzt der Nationalmannschaft der Skispringer eingesetzt. Doch er fühlt sich wie in einem goldenen Käfig. Und er sieht aus seinem Leben nur einen Ausweg: die Flucht in den Westen. Er plant sie gemeinsam mit einem Freund, der sich schon in den Westen abgesetzt hat. Bei einem Mattenspringen im August 1988 im Schwarzwald schüttelt er vor dem Mannschaftshotel seinen Aufpasser von der Stasi ab, steigt in das wartende Auto des Freundes und braust mit ihm davon. „Ich zerriss mir das Herz. Ich nahm meinen Koffer und gab alles auf, was ich besaß und war. Wie ich das schaffte, weiß ich heute nicht mehr.“

Personenschützer sollen ihn vor der Stasi retten

Einerseits nennt er seine Flucht in seinem Buch „persönliche Bestleistung“, verschweigt aber andererseits nicht, was er damit alles zerstörte. „Ich enttäuschte meine Kinder, belog meine damalige Frau, ich verließ meine Eltern und ließ meine Freunde zurück – und ich nahm in Kauf, dass sie zu Opfern der kruden Logik des Gefängnisstaates wurden. Es ist mir nicht gelungen, sie vor diesen Enttäuschungen und Erfahrungen zu schützen. In diesem Punkt habe ich versagt. Ich habe auch darin versagt, all diesen Menschen meine innere Zerrissenheit und bröselnde Einstellung zum Gesamtsystem mitzuteilen.“ Bis heute hat er sich mit seinen beiden Kindern nicht ganz ausgesprochen und hofft, dass sein Buch wie ein Vorgespräch wirkt. „Da ist noch was offen. Das Buch ist vielleicht nicht der Versuch einer Entschuldigung, aber der Erklärung für meine Kinder, warum alles so gekommen ist.“

Armeesportler und SED-Mitglied Aschenbach ist als Oberstleutnant der wohl ranghöchste Offizier der Nationalen Volksarmee, der je in den Westen flüchtete, das macht seinen Fall so brisant und es birgt Gefahren. Im ersten halben Jahr im Westen bekommt er Personenschützer zur Seite gestellt. Gefürchtet hat er sich trotzdem. „Ich hatte immer Angst, ich war gewarnt, denn Teil unserer politischen Erziehung war ja die Aussage: Keiner bleibt im Westen, jeder wird zurückgeholt, keiner wird es genießen.“ Aus seiner Stasiakte erfährt er, dass seine Angst nicht unbegründet war. „… erklärte sich der IMS ,Rennsteig‘ selbständig bereit, mit seinem Lkw ,Versager‘ in die DDR zurückzuführen“, heißt es darin. Ein Vertrauter sollte ihn erst betäuben und dann verschleppen. „Aus irgendeinem undokumentierten Grund wurde der Plan nicht umgesetzt.“

Hans-Georg Aschenbach heute.
Hans-Georg Aschenbach heute.

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Im Oktober 1989, einen Monat vor dem Fall der Mauer, kommen seine Frau und seine beiden Kinder in die Bundesrepublik nach. Es sei ihm mithilfe der UN gelungen, sie „aus der Sippenhaft der DDR freikaufen zu können“. Mit seiner Frau wird er jedoch nicht mehr zusammenleben. Aschenbachs neue Lebensgefährtin ist eine ehemalige Patientin von ihm, er wird sie einige Jahre später heiraten.

Seine Vergangenheit lässt er vergangen sein und baut sich in Freiburg eine neue Existenz auf, beim Sportmediziner Armin Klümper, Leiter der Sporttraumatologie der Mooswaldklinik und Professor an der Universität Freiburg. Klümper verschafft ihm eine Anstellung in der Klinik. Er gilt als Inbegriff der Dopingversuche in der Bundesrepublik. Doch Aschenbach ist anderer Ansicht: „In meinen Augen – und das sage ich nicht aus Dankbarkeit – der weltbeste Sportmediziner seiner Zeit. Ich persönlich bin überzeugt, dass er diesbezüglich zu Unrecht beschuldigt wird.“

Aschenbach lässt sich nicht einordnen. Das mag an seiner Zerrissenheit liegen. Ein Weggefährte sagt, in der DDR sei ihm Aschenbach mal als „gemütlicher Gebirgsseppl“ begegnet, mal als „scharfer Denker“, der sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen müsse, ein Opportunist zu sein. Woran man bei ihm sei, lasse sich schwer sagen. Er selbst erklärt: „Vermutlich muss sich jeder Sportler, der in der DDR manipuliert wurde, mühsam seinen Standpunkt und die Haltung im Nachhinein neu erarbeiten.“ Das habe er nun getan.

Eine Diskussion wolle er erreichen, wie in Suhl. Aber mit seiner eigenwilligen Art macht es Aschenbach nicht leicht, sich darauf einzulassen. „Ich will Leuten auch mal auf die Füße treten“, sagt er. Vor allem den Funktionären des alten Systems. „Wen ich kritisiere, sind die Menschen, die sich daran bereicherten, ohne eigene Opfer zu bringen, die uns Sportler entmündigten.“ Auf ihre Anfeindungen reagiert er nach außen hin gelassen. „Die werden es nie verstehen, weil sie es nie verstehen wollten, weil es immer hieß: Mitmachen, durchhalten, Schnauze halten.“

Aschenbach wird sie jetzt wieder treffen, wenn sie bei seinen Lesungen auf einer Seite sitzen und ihm mit Worten und Blicken zu verstehen geben, dass er sie verraten habe.

Hans-Georg Aschenbach (mit Hendrik Rümenap): Euer Held. Euer Verräter. Mein Leben für den Leistungssport. Mitteldeutscher Verlag, 191 Seiten, 19,95 Euro.

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