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Alle Hemden sind schon eingepackt. Andy Murray steht bei den Australian Open auf Abruf bereit für den Heimflug zur schwangeren Ehefrau nach London. Foto: Imago/BPI

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Australian Open: Warum Tennisprofis keine Tenniskinder wollen

Der werdende Vater Andy Murray sitzt in Melbourne auf gepackten Koffern, die Geburt seines ersten Kindes steht an. Wie viele andere will er dem Nachwuchs aber eine Profikarriere ersparen.

Andy Murray hat gar nicht erst richtig ausgepackt. Sein Gepäck steht noch griffbereit in seinem Hotelzimmer, nur für den Fall. Eigentlich sollte der Fokus des Weltranglistenzweiten ja auf den Australian Open liegen, die am Montag auf den Hartplätzen des Melbourne Parks beginnen. Doch die Gedanken des 28-jährigen Schotten sind derzeit bei seiner Frau Kim im 16 000 Kilometer entfernten Surrey, einem Vorort von London. Anfang Februar erwarten sie ihr erstes Kind. „In dieser Phase kann alles passieren“, sagt Murray, „ich will bei der Geburt unbedingt dabei sein. Sobald ich einen Anruf kriege, sitze ich im nächsten Flieger nach Hause.“ Auch wenn er zum fünften Mal ins Finale von Melbourne einziehen sollte und der ersehnte erste Grand- Slam-Titel aus Down Under greifbar wäre, würde Murray keinen Moment zögern und sich seinen Koffer schnappen.

Roger Federer kann das gut verstehen. „Es ist okay, deswegen einen Slam zu verpassen“, sagt der 34-jährige Schweizer, „ein Slam ist nicht das Leben. Das Leben ist das, was die nächsten vielleicht 60 Jahre danach folgt – mit deinen Kindern.“ Federer hatte doppelt Glück – seine Zwillingstöchter und Zwillingssöhne kamen jeweils zu einer günstigen Phase im Turnierkalender zur Welt. Auch für Murray sollte normalerweise das Timing passen, und der Schotte komplettiert nun das Papa-Quartett der vier besten Tennisspieler. Federer, Novak Djokovic und Stan Wawrinka sind inzwischen stolze Väter. Nur Rafael Nadal hat sich aus der Riege der Goldenen Generation familiär noch nicht endgültig festgelegt. Mit dem Spanier zusammen haben die vier Topspieler seit 2003 sagenhafte 44 Grand-Slam-Titel unter sich verteilt – ein Übermaß an Tennistalent-Genen, das sich da weitervererbt. Doch die Vorfreude auf einen neuen Jahrgang Super-Federers und Co. ist wohl vergebens. Sollte der Nachwuchs in ihre Tennis-Fußstapfen treten wollen, heißt ihr einhelliges Credo nur: „Liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!“

Warum nur? Schließlich hat ihnen das Tennis viel gegeben. Rekorde, Ruhm und nicht zuletzt finanziellen Wohlstand. Sicher, ein großer Name kann eine große Bürde sein, das hält aber in vielen Sportarten die Sprösslinge nicht davon ab, ihren Eltern nachzueifern. Nico Rosberg kämpft in der Formel 1 um jenen WM-Titel, den sein Vater Keke einst gewann. Felix Neureuther jagt auf seinen Skiern die Hänge hinab und den Medaillen seiner Mutter hinterher. Ob im Fußball, Eishockey, der Leichtathletik, im Handball – überall tummeln sich die Kinder erfolgreicher Athleten, nur im Tennis sucht man vergeblich. Denn der Preis, den sie für ihre Profikarriere bezahlt haben, war hoch. Und diese Bürde wollen sie ihren Kindern ersparen. „Ich werde mein Kind sicher nicht dazu drängen, Tennis zu spielen“, sagt Murray. Um die Freude am Sport gehe es, so hält es auch Federer mit seinen Töchtern und Söhnen: „Sport ist eine gute Lebensschule. Es ist gesund, sozial. Man lernt zu verlieren und zu gewinnen.“ Profis sollen sie, wenn möglich, jedoch nicht werden. „Der Weg dorthin ist viel zu hart“, sagt auch Tommy Haas, gerade zum zweiten Mal Vater geworden. Seine Töchter dürfen „höchstens hobbymäßig“ Tennis spielen.

Haas wurde mit neun Jahren erstmals ins berühmt-berüchtigte Trainingscamp von Nick Bollettieri nach Florida gebracht. Kaserniert, gedrillt, aussortiert – so läuft das gnadenlose Sichtungsverfahren mit hunderten Jugendlichen aus aller Welt. Nur die Härtesten und Hungrigsten kommen durch. Meist sind es jene, die wirklich Hunger haben. Wie Maria Scharapowa, die damals mit nichts aus Sibirien ins Camp kam und sich mit ihrer bedingungslose Disziplin ein Millionen-Imperium aufbaute. Und doch ist auch die Russin unsicher, ob ihre Kinder später einmal diese Entbehrungen erdulden sollten. Haas hatte oft Heimweh, das kannte Federer auch, der damals im Schweizer Leistungszentrum nahe Lausanne am Genfer See weit weg von zu Hause war. Djokovic wurde früh nach München in die Akademie von Niki Pilic geschickt. Sich jeden Tag durchbeißen, gegen alle beweisen, immer unter Druck – Andre Agassi, auch ein Bollettieri-Schüler, hatte das nicht ausgehalten.

Die brutale Strenge seines Vaters brachte den heutigen Ehemann von Steffi Graf dazu, das Tennis sogar zu hassen. Bei Graf hatte der Drill durch ihren Vater ebenfalls Spuren hinterlassen, auch wenn sie sich öffentlich nie dazu geäußert hat. Ihre Kinder Jaden und Jaz Elle haben sie lieber zu anderen Sportarten ermutigt. „Andre und ich wissen am besten, wie schwer der Weg gewesen wäre, wenn sie sich dafür entschieden hätten“, sagte Graf einmal im Interview, „das wäre auch für uns nicht leicht gewesen. Deshalb haben wir sie auch nie in die Richtung Tennis gedrängt.“

Zudem wäre der Schatten des Tennis-Traumpaares wohl erdrückend gewesen. Das wollte schon die vorherige Generation vermeiden. So sind die Töchter von Ivan Lendl erfolgreiche Golferinnen und Reiterinnen, der Sohn von Yannick Noah ist Basketball-Profi in der NBA.

Auch bei Boris Becker war der Hype um seinen Sohn Noah anfangs enorm, der sollte der nächste 17-jährige Wimbledonsieger werden. Doch der wollte sich dem Vergleich nicht aussetzen. „Was mein Vater geleistet hat, das ist so nur ein einziges Mal möglich“, sagte Noah Becker als 17-Jähriger, „das kann man auch mit dem größten Talent nicht wiederholen.“ Tennis habe er zwar auch mal gespielt, doch er hatte das Gefühl, man habe ihn nur ins Team geholt, weil er eben Becker heißt. Seine Eltern seien Vorbilder für ihn, „aber ich will nicht ihr Leben noch einmal leben“. Dagegen beneidete Vater Becker seinen Sohn oft genug. Beim Lümmeln auf dem Sofa vor der Sportsendung, mit Knabberzeug in der einen und dem Computerspiel in der anderen Hand. „Da dachte ich dann schon: Mensch, das hätte ich auch gern gehabt mit 17.“

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